entfernte sie sich von den Bundesgenossen, und es stand mit Sicherheit zu erwarten, daß der behutsame englische Feldherr sich dann nach Ant- werpen, vielleicht auf seine Schiffe zurückzog. So ging der belgische Feld- zug mit einem Schlage zu Ende, und wer stand dafür, ob die Coalition mit ihren bösen Congreß-Erinnerungen, mit ihrer mühsam verhaltenen Zwietracht, mit ihrem kleinmüthigen Schwarzenbergischen Hauptquartiere dann noch den Muth fand den Krieg gegen Frankreich fortzusetzen, wenn ihre beiden besten Feldherren das Spiel verloren gaben? Ein Ausweg blieb noch: hatte Wellington nicht vorwärts zu den Preußen kommen wollen, so konnten diese rückwärts die Vereinigung mit dem englischen Heere suchen. Wenn die Armee ihre Verbindung mit dem Rheine auf- gab und auf jede Gefahr hin den schwierigen Weg nach Norden, in der Richtung auf Wavre einschlug, so näherte sie sich den Verbündeten und es blieb möglich, daß in zwei oder drei Tagen irgendwo in der Nähe von Brüssel die Schlacht mit vereinten Kräften noch geschlagen wurde, welche heute durch Wellingtons Schuld vereitelt war. In wenigen Minuten mußte der folgenschwere Entschluß gefaßt werden; das Schicksal der nächsten Monate europäischer Geschichte hing daran. Gneisenau entschied wie er mußte, wie außer ihm von allen Heerführern jener Tage nur noch Blücher selbst entschieden hätte. Nach einem Blick auf die Karte befahl er den Marsch nordwärts über Tilly und Mellery nach Wavre.
Die Adjutanten flogen aus um den Truppen in der Finsterniß die Richtung anzugeben. General Jagow deckte den Rückzug, blieb noch bis 2 Uhr Nachts auf dem Schlachtfelde. Die Franzosen trauten ihrem eigenen Siege nicht, ihre Garde stand die ganze Nacht hindurch unter den Waffen. Sie wagten weder zu verfolgen noch auch nur die Marschrichtung der Ge- schlagenen zu erkunden und verloren jede Fühlung mit dem Gegner. Die preußische Armee hatte 12,000 Mann verloren, etwas mehr als der Feind, das Corps Zieten sogar fast ein Viertel seiner Mannschaft. Aber so uner- schütterlich war die sittliche Spannkraft dieses Heeres: nach wenigen Stun- den der Nachtruhe standen die Regimenter schon bei Tagesanbruch wieder in guter Ordnung beisammen. Keine Spur von jener gedrückten Stimmung, die nach unglücklichen Kämpfen selbst den Tapferen überkommt; gleich leb- haft verlangten die Soldaten wie die Führer nach einer neuen Schlacht um die Scharte auszuwetzen. Einige tausend Mann von den neugebildeten westphälischen Regimentern waren freilich versprengt, irrten an der Römer- straße entlang der Maas und dem Rheine zu. Doch von den erprobten Truppen aus den alten Provinzen fehlte fast Niemand; die Wenigen unter diesen Veteranen von 1813, die im Dunkel der Nacht von ihren Regimentern ostwärts abgekommen, schlossen sich, sobald sie auf Bülows Corps trafen, diesem an und nahmen noch Theil an der Schlacht von Belle Alliance.
Glücklicher hatte das englische Heer den heißen Tag überstanden. Als
II. 2. Belle Alliance.
entfernte ſie ſich von den Bundesgenoſſen, und es ſtand mit Sicherheit zu erwarten, daß der behutſame engliſche Feldherr ſich dann nach Ant- werpen, vielleicht auf ſeine Schiffe zurückzog. So ging der belgiſche Feld- zug mit einem Schlage zu Ende, und wer ſtand dafür, ob die Coalition mit ihren böſen Congreß-Erinnerungen, mit ihrer mühſam verhaltenen Zwietracht, mit ihrem kleinmüthigen Schwarzenbergiſchen Hauptquartiere dann noch den Muth fand den Krieg gegen Frankreich fortzuſetzen, wenn ihre beiden beſten Feldherren das Spiel verloren gaben? Ein Ausweg blieb noch: hatte Wellington nicht vorwärts zu den Preußen kommen wollen, ſo konnten dieſe rückwärts die Vereinigung mit dem engliſchen Heere ſuchen. Wenn die Armee ihre Verbindung mit dem Rheine auf- gab und auf jede Gefahr hin den ſchwierigen Weg nach Norden, in der Richtung auf Wavre einſchlug, ſo näherte ſie ſich den Verbündeten und es blieb möglich, daß in zwei oder drei Tagen irgendwo in der Nähe von Brüſſel die Schlacht mit vereinten Kräften noch geſchlagen wurde, welche heute durch Wellingtons Schuld vereitelt war. In wenigen Minuten mußte der folgenſchwere Entſchluß gefaßt werden; das Schickſal der nächſten Monate europäiſcher Geſchichte hing daran. Gneiſenau entſchied wie er mußte, wie außer ihm von allen Heerführern jener Tage nur noch Blücher ſelbſt entſchieden hätte. Nach einem Blick auf die Karte befahl er den Marſch nordwärts über Tilly und Mellery nach Wavre.
Die Adjutanten flogen aus um den Truppen in der Finſterniß die Richtung anzugeben. General Jagow deckte den Rückzug, blieb noch bis 2 Uhr Nachts auf dem Schlachtfelde. Die Franzoſen trauten ihrem eigenen Siege nicht, ihre Garde ſtand die ganze Nacht hindurch unter den Waffen. Sie wagten weder zu verfolgen noch auch nur die Marſchrichtung der Ge- ſchlagenen zu erkunden und verloren jede Fühlung mit dem Gegner. Die preußiſche Armee hatte 12,000 Mann verloren, etwas mehr als der Feind, das Corps Zieten ſogar faſt ein Viertel ſeiner Mannſchaft. Aber ſo uner- ſchütterlich war die ſittliche Spannkraft dieſes Heeres: nach wenigen Stun- den der Nachtruhe ſtanden die Regimenter ſchon bei Tagesanbruch wieder in guter Ordnung beiſammen. Keine Spur von jener gedrückten Stimmung, die nach unglücklichen Kämpfen ſelbſt den Tapferen überkommt; gleich leb- haft verlangten die Soldaten wie die Führer nach einer neuen Schlacht um die Scharte auszuwetzen. Einige tauſend Mann von den neugebildeten weſtphäliſchen Regimentern waren freilich verſprengt, irrten an der Römer- ſtraße entlang der Maas und dem Rheine zu. Doch von den erprobten Truppen aus den alten Provinzen fehlte faſt Niemand; die Wenigen unter dieſen Veteranen von 1813, die im Dunkel der Nacht von ihren Regimentern oſtwärts abgekommen, ſchloſſen ſich, ſobald ſie auf Bülows Corps trafen, dieſem an und nahmen noch Theil an der Schlacht von Belle Alliance.
Glücklicher hatte das engliſche Heer den heißen Tag überſtanden. Als
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0758"n="742"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> 2. Belle Alliance.</fw><lb/>
entfernte ſie ſich von den Bundesgenoſſen, und es ſtand mit Sicherheit<lb/>
zu erwarten, daß der behutſame engliſche Feldherr ſich dann nach Ant-<lb/>
werpen, vielleicht auf ſeine Schiffe zurückzog. So ging der belgiſche Feld-<lb/>
zug mit einem Schlage zu Ende, und wer ſtand dafür, ob die Coalition<lb/>
mit ihren böſen Congreß-Erinnerungen, mit ihrer mühſam verhaltenen<lb/>
Zwietracht, mit ihrem kleinmüthigen Schwarzenbergiſchen Hauptquartiere<lb/>
dann noch den Muth fand den Krieg gegen Frankreich fortzuſetzen, wenn<lb/>
ihre beiden beſten Feldherren das Spiel verloren gaben? Ein Ausweg<lb/>
blieb noch: hatte Wellington nicht vorwärts zu den Preußen kommen<lb/>
wollen, ſo konnten dieſe rückwärts die Vereinigung mit dem engliſchen<lb/>
Heere ſuchen. Wenn die Armee ihre Verbindung mit dem Rheine auf-<lb/>
gab und auf jede Gefahr hin den ſchwierigen Weg nach Norden, in der<lb/>
Richtung auf Wavre einſchlug, ſo näherte ſie ſich den Verbündeten und<lb/>
es blieb möglich, daß in zwei oder drei Tagen irgendwo in der Nähe von<lb/>
Brüſſel die Schlacht mit vereinten Kräften noch geſchlagen wurde, welche<lb/>
heute durch Wellingtons Schuld vereitelt war. In wenigen Minuten<lb/>
mußte der folgenſchwere Entſchluß gefaßt werden; das Schickſal der nächſten<lb/>
Monate europäiſcher Geſchichte hing daran. Gneiſenau entſchied wie er<lb/>
mußte, wie außer ihm von allen Heerführern jener Tage nur noch Blücher<lb/>ſelbſt entſchieden hätte. Nach einem Blick auf die Karte befahl er den<lb/>
Marſch nordwärts über Tilly und Mellery nach Wavre.</p><lb/><p>Die Adjutanten flogen aus um den Truppen in der Finſterniß die<lb/>
Richtung anzugeben. General Jagow deckte den Rückzug, blieb noch bis<lb/>
2 Uhr Nachts auf dem Schlachtfelde. Die Franzoſen trauten ihrem eigenen<lb/>
Siege nicht, ihre Garde ſtand die ganze Nacht hindurch unter den Waffen.<lb/>
Sie wagten weder zu verfolgen noch auch nur die Marſchrichtung der Ge-<lb/>ſchlagenen zu erkunden und verloren jede Fühlung mit dem Gegner. Die<lb/>
preußiſche Armee hatte 12,000 Mann verloren, etwas mehr als der Feind,<lb/>
das Corps Zieten ſogar faſt ein Viertel ſeiner Mannſchaft. Aber ſo uner-<lb/>ſchütterlich war die ſittliche Spannkraft dieſes Heeres: nach wenigen Stun-<lb/>
den der Nachtruhe ſtanden die Regimenter ſchon bei Tagesanbruch wieder in<lb/>
guter Ordnung beiſammen. Keine Spur von jener gedrückten Stimmung,<lb/>
die nach unglücklichen Kämpfen ſelbſt den Tapferen überkommt; gleich leb-<lb/>
haft verlangten die Soldaten wie die Führer nach einer neuen Schlacht<lb/>
um die Scharte auszuwetzen. Einige tauſend Mann von den neugebildeten<lb/>
weſtphäliſchen Regimentern waren freilich verſprengt, irrten an der Römer-<lb/>ſtraße entlang der Maas und dem Rheine zu. Doch von den erprobten<lb/>
Truppen aus den alten Provinzen fehlte faſt Niemand; die Wenigen<lb/>
unter dieſen Veteranen von 1813, die im Dunkel der Nacht von ihren<lb/>
Regimentern oſtwärts abgekommen, ſchloſſen ſich, ſobald ſie auf Bülows<lb/>
Corps trafen, dieſem an und nahmen noch Theil an der Schlacht von<lb/>
Belle Alliance.</p><lb/><p>Glücklicher hatte das engliſche Heer den heißen Tag überſtanden. Als<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[742/0758]
II. 2. Belle Alliance.
entfernte ſie ſich von den Bundesgenoſſen, und es ſtand mit Sicherheit
zu erwarten, daß der behutſame engliſche Feldherr ſich dann nach Ant-
werpen, vielleicht auf ſeine Schiffe zurückzog. So ging der belgiſche Feld-
zug mit einem Schlage zu Ende, und wer ſtand dafür, ob die Coalition
mit ihren böſen Congreß-Erinnerungen, mit ihrer mühſam verhaltenen
Zwietracht, mit ihrem kleinmüthigen Schwarzenbergiſchen Hauptquartiere
dann noch den Muth fand den Krieg gegen Frankreich fortzuſetzen, wenn
ihre beiden beſten Feldherren das Spiel verloren gaben? Ein Ausweg
blieb noch: hatte Wellington nicht vorwärts zu den Preußen kommen
wollen, ſo konnten dieſe rückwärts die Vereinigung mit dem engliſchen
Heere ſuchen. Wenn die Armee ihre Verbindung mit dem Rheine auf-
gab und auf jede Gefahr hin den ſchwierigen Weg nach Norden, in der
Richtung auf Wavre einſchlug, ſo näherte ſie ſich den Verbündeten und
es blieb möglich, daß in zwei oder drei Tagen irgendwo in der Nähe von
Brüſſel die Schlacht mit vereinten Kräften noch geſchlagen wurde, welche
heute durch Wellingtons Schuld vereitelt war. In wenigen Minuten
mußte der folgenſchwere Entſchluß gefaßt werden; das Schickſal der nächſten
Monate europäiſcher Geſchichte hing daran. Gneiſenau entſchied wie er
mußte, wie außer ihm von allen Heerführern jener Tage nur noch Blücher
ſelbſt entſchieden hätte. Nach einem Blick auf die Karte befahl er den
Marſch nordwärts über Tilly und Mellery nach Wavre.
Die Adjutanten flogen aus um den Truppen in der Finſterniß die
Richtung anzugeben. General Jagow deckte den Rückzug, blieb noch bis
2 Uhr Nachts auf dem Schlachtfelde. Die Franzoſen trauten ihrem eigenen
Siege nicht, ihre Garde ſtand die ganze Nacht hindurch unter den Waffen.
Sie wagten weder zu verfolgen noch auch nur die Marſchrichtung der Ge-
ſchlagenen zu erkunden und verloren jede Fühlung mit dem Gegner. Die
preußiſche Armee hatte 12,000 Mann verloren, etwas mehr als der Feind,
das Corps Zieten ſogar faſt ein Viertel ſeiner Mannſchaft. Aber ſo uner-
ſchütterlich war die ſittliche Spannkraft dieſes Heeres: nach wenigen Stun-
den der Nachtruhe ſtanden die Regimenter ſchon bei Tagesanbruch wieder in
guter Ordnung beiſammen. Keine Spur von jener gedrückten Stimmung,
die nach unglücklichen Kämpfen ſelbſt den Tapferen überkommt; gleich leb-
haft verlangten die Soldaten wie die Führer nach einer neuen Schlacht
um die Scharte auszuwetzen. Einige tauſend Mann von den neugebildeten
weſtphäliſchen Regimentern waren freilich verſprengt, irrten an der Römer-
ſtraße entlang der Maas und dem Rheine zu. Doch von den erprobten
Truppen aus den alten Provinzen fehlte faſt Niemand; die Wenigen
unter dieſen Veteranen von 1813, die im Dunkel der Nacht von ihren
Regimentern oſtwärts abgekommen, ſchloſſen ſich, ſobald ſie auf Bülows
Corps trafen, dieſem an und nahmen noch Theil an der Schlacht von
Belle Alliance.
Glücklicher hatte das engliſche Heer den heißen Tag überſtanden. Als
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 742. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/758>, abgerufen am 17.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.