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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
Lande der reinen Aufklärung die Durchschnittsansichten des jungen Libe-
ralismus jene bequeme, gemeinverständliche Fassung erhielten, welche sie
zu Vorurtheilen Aller machten. Die Initiative stand dem Landtage nicht
zu, wohl aber das Recht, die Regierung um den Vorschlag eines Gesetzes
zu bitten, und er machte von dieser Befugniß einen so umfassenden Ge-
brauch, daß die Krone, wenn sie sich fügte, die Leitung der gesetzgeberischen
Arbeit gänzlich verloren hätte.

Ein ganzes Programm liberaler Wünsche, Stoffes genug für die
Gesetzgebung mehrerer Jahrzehnte, ward in kurzen drei Monaten vor-
gebracht und von der Kammer, da die Antragsteller sich zumeist in un-
bestimmten Allgemeinheiten bewegten, einstimmig oder mit großer Mehr-
heit angenommen, was der entzückte Varnhagen für ein merkwürdiges
Zeichen politischer Reife erklärte. Ganz einstimmig war das Haus, als
Frhr. v. Lotzbeck, der reiche Lahrer Tabaksfabrikant, nach einer drastischen
und nur allzu wahren Schilderung der zunehmenden Verarmung, die all-
gemeine Verkehrsfreiheit für ganz Deutschland verlangte. Von den Wegen
freilich, die zu diesem Ziele führen sollten, hatte Niemand einen Begriff,
und daß der König von Preußen soeben elf Millionen Deutschen den
freien Verkehr geschenkt, wurde nicht nur nicht gewürdigt, sondern als ein
schnöder Eingriff in die wahre deutsche Verkehrsfreiheit gebrandmarkt
Darauf beantragte der wackere Heidelberger Buchhändler C. F. Winter
die Einführung der Preßfreiheit, und Liebenstein unterstützte ihn mit For-
derungen, welche erst das neue deutsche Reich verwirklicht hat: er ver-
langte nicht nur, wie billig, die Aufhebung der Censur, sondern wollte
auch die Cautionen für die Zeitungen und schlechthin alle vorbeugenden
Maßregeln gegen die Presse beseitigt wissen, was in der That unmöglich
war, so lange die öffentliche Meinung sich noch nicht einmal über die
Grundlagen des deutschen Bundesrechts geeinigt hatte. Dann bot Rotteck
den Ministern, welche dieser Hilfe durchaus nicht begehrten, den Beistand
der Kammer an zum Kampfe gegen die römische Curie und verherrlichte
die deutsche katholische Nationalkirche, wie immer fein und liebenswürdig
in der Form, aber in der Sache ganz radikal, ganz unbekümmert um
die Thatsachen der Geschichte, welche die Unausführbarkeit der Wessen-
bergischen Träume bereit erwiesen hatten. Es lag eine wunderbare Kraft
des Glaubens in dem warmherzigen Doktrinär, der sich die Möglichkeit eines
stichhaltigen Einwandes gegen das Evangelium des Vernunftrechts schlechter-
dings nicht vorzustellen vermochte. Thibaut und A. Müller, so gestand
er bescheiden, sind mir an Geist und Gelehrsamkeit weit überlegen, aber
Recht und Wahrheit stehen auf meiner Seite und mit ihnen ist man un-
überwindlich. Darum verdammte er jedes Compromiß als einen Ver-
rath: "zwischen Recht und Nicht-Recht kenne ich keinen Mittelweg."

Daran schlossen sich wohlberechtigte, aber noch ganz unfertige An-
träge auf Beseitigung der Frohnden und Zehnten, auf Trennung von

II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Lande der reinen Aufklärung die Durchſchnittsanſichten des jungen Libe-
ralismus jene bequeme, gemeinverſtändliche Faſſung erhielten, welche ſie
zu Vorurtheilen Aller machten. Die Initiative ſtand dem Landtage nicht
zu, wohl aber das Recht, die Regierung um den Vorſchlag eines Geſetzes
zu bitten, und er machte von dieſer Befugniß einen ſo umfaſſenden Ge-
brauch, daß die Krone, wenn ſie ſich fügte, die Leitung der geſetzgeberiſchen
Arbeit gänzlich verloren hätte.

Ein ganzes Programm liberaler Wünſche, Stoffes genug für die
Geſetzgebung mehrerer Jahrzehnte, ward in kurzen drei Monaten vor-
gebracht und von der Kammer, da die Antragſteller ſich zumeiſt in un-
beſtimmten Allgemeinheiten bewegten, einſtimmig oder mit großer Mehr-
heit angenommen, was der entzückte Varnhagen für ein merkwürdiges
Zeichen politiſcher Reife erklärte. Ganz einſtimmig war das Haus, als
Frhr. v. Lotzbeck, der reiche Lahrer Tabaksfabrikant, nach einer draſtiſchen
und nur allzu wahren Schilderung der zunehmenden Verarmung, die all-
gemeine Verkehrsfreiheit für ganz Deutſchland verlangte. Von den Wegen
freilich, die zu dieſem Ziele führen ſollten, hatte Niemand einen Begriff,
und daß der König von Preußen ſoeben elf Millionen Deutſchen den
freien Verkehr geſchenkt, wurde nicht nur nicht gewürdigt, ſondern als ein
ſchnöder Eingriff in die wahre deutſche Verkehrsfreiheit gebrandmarkt
Darauf beantragte der wackere Heidelberger Buchhändler C. F. Winter
die Einführung der Preßfreiheit, und Liebenſtein unterſtützte ihn mit For-
derungen, welche erſt das neue deutſche Reich verwirklicht hat: er ver-
langte nicht nur, wie billig, die Aufhebung der Cenſur, ſondern wollte
auch die Cautionen für die Zeitungen und ſchlechthin alle vorbeugenden
Maßregeln gegen die Preſſe beſeitigt wiſſen, was in der That unmöglich
war, ſo lange die öffentliche Meinung ſich noch nicht einmal über die
Grundlagen des deutſchen Bundesrechts geeinigt hatte. Dann bot Rotteck
den Miniſtern, welche dieſer Hilfe durchaus nicht begehrten, den Beiſtand
der Kammer an zum Kampfe gegen die römiſche Curie und verherrlichte
die deutſche katholiſche Nationalkirche, wie immer fein und liebenswürdig
in der Form, aber in der Sache ganz radikal, ganz unbekümmert um
die Thatſachen der Geſchichte, welche die Unausführbarkeit der Weſſen-
bergiſchen Träume bereit erwieſen hatten. Es lag eine wunderbare Kraft
des Glaubens in dem warmherzigen Doktrinär, der ſich die Möglichkeit eines
ſtichhaltigen Einwandes gegen das Evangelium des Vernunftrechts ſchlechter-
dings nicht vorzuſtellen vermochte. Thibaut und A. Müller, ſo geſtand
er beſcheiden, ſind mir an Geiſt und Gelehrſamkeit weit überlegen, aber
Recht und Wahrheit ſtehen auf meiner Seite und mit ihnen iſt man un-
überwindlich. Darum verdammte er jedes Compromiß als einen Ver-
rath: „zwiſchen Recht und Nicht-Recht kenne ich keinen Mittelweg.“

Daran ſchloſſen ſich wohlberechtigte, aber noch ganz unfertige An-
träge auf Beſeitigung der Frohnden und Zehnten, auf Trennung von

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[512/0526] II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. Lande der reinen Aufklärung die Durchſchnittsanſichten des jungen Libe- ralismus jene bequeme, gemeinverſtändliche Faſſung erhielten, welche ſie zu Vorurtheilen Aller machten. Die Initiative ſtand dem Landtage nicht zu, wohl aber das Recht, die Regierung um den Vorſchlag eines Geſetzes zu bitten, und er machte von dieſer Befugniß einen ſo umfaſſenden Ge- brauch, daß die Krone, wenn ſie ſich fügte, die Leitung der geſetzgeberiſchen Arbeit gänzlich verloren hätte. Ein ganzes Programm liberaler Wünſche, Stoffes genug für die Geſetzgebung mehrerer Jahrzehnte, ward in kurzen drei Monaten vor- gebracht und von der Kammer, da die Antragſteller ſich zumeiſt in un- beſtimmten Allgemeinheiten bewegten, einſtimmig oder mit großer Mehr- heit angenommen, was der entzückte Varnhagen für ein merkwürdiges Zeichen politiſcher Reife erklärte. Ganz einſtimmig war das Haus, als Frhr. v. Lotzbeck, der reiche Lahrer Tabaksfabrikant, nach einer draſtiſchen und nur allzu wahren Schilderung der zunehmenden Verarmung, die all- gemeine Verkehrsfreiheit für ganz Deutſchland verlangte. Von den Wegen freilich, die zu dieſem Ziele führen ſollten, hatte Niemand einen Begriff, und daß der König von Preußen ſoeben elf Millionen Deutſchen den freien Verkehr geſchenkt, wurde nicht nur nicht gewürdigt, ſondern als ein ſchnöder Eingriff in die wahre deutſche Verkehrsfreiheit gebrandmarkt Darauf beantragte der wackere Heidelberger Buchhändler C. F. Winter die Einführung der Preßfreiheit, und Liebenſtein unterſtützte ihn mit For- derungen, welche erſt das neue deutſche Reich verwirklicht hat: er ver- langte nicht nur, wie billig, die Aufhebung der Cenſur, ſondern wollte auch die Cautionen für die Zeitungen und ſchlechthin alle vorbeugenden Maßregeln gegen die Preſſe beſeitigt wiſſen, was in der That unmöglich war, ſo lange die öffentliche Meinung ſich noch nicht einmal über die Grundlagen des deutſchen Bundesrechts geeinigt hatte. Dann bot Rotteck den Miniſtern, welche dieſer Hilfe durchaus nicht begehrten, den Beiſtand der Kammer an zum Kampfe gegen die römiſche Curie und verherrlichte die deutſche katholiſche Nationalkirche, wie immer fein und liebenswürdig in der Form, aber in der Sache ganz radikal, ganz unbekümmert um die Thatſachen der Geſchichte, welche die Unausführbarkeit der Weſſen- bergiſchen Träume bereit erwieſen hatten. Es lag eine wunderbare Kraft des Glaubens in dem warmherzigen Doktrinär, der ſich die Möglichkeit eines ſtichhaltigen Einwandes gegen das Evangelium des Vernunftrechts ſchlechter- dings nicht vorzuſtellen vermochte. Thibaut und A. Müller, ſo geſtand er beſcheiden, ſind mir an Geiſt und Gelehrſamkeit weit überlegen, aber Recht und Wahrheit ſtehen auf meiner Seite und mit ihnen iſt man un- überwindlich. Darum verdammte er jedes Compromiß als einen Ver- rath: „zwiſchen Recht und Nicht-Recht kenne ich keinen Mittelweg.“ Daran ſchloſſen ſich wohlberechtigte, aber noch ganz unfertige An- träge auf Beſeitigung der Frohnden und Zehnten, auf Trennung von

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/526>, abgerufen am 28.04.2024.