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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 1. Die Wiener Conferenzen.
liehen werden solle. So erschien das Grundgesetz, obwohl es in Wahr-
heit mit dem Landtage vereinbart war, der Form nach als eine gegebene
Verfassung, und das den strengen Monarchisten so unheimliche Schreckbild
eines politischen Grundvertrages war glücklich vermieden. Zur selben
Zeit wurde Leutnant Schulz aus der Armee entlassen, nachdem Prinz
Emil und die Offiziere seines Reiter-Regiments den Großherzog dringend
um "die Entfernung dieses Unwürdigen" gebeten hatten; und nun erst
söhnten sich die Prinzen mit der neuen Ordnung der Dinge völlig aus.*)
Aus Ehrfurcht vor dem greisen Landesherrn ließen sich die Landstände
gleichfalls die Form der Verfassungsverleihung wohl gefallen, da sie in
der Sache doch fast alle ihre Wünsche durchgesetzt hatten; sie widersprachen
auch nicht, als der Minister die fragwürdige Behauptung aufstellte, daß
die Weisheit des Großherzogs schon im März Alles genau so wie es ge-
kommen sei vorhergesehen habe. Genug, Grolmann hatte, gewandt und
fest, zuerst die Radikalen geschlagen, dann die höfische Opposition, die bei
der beginnenden Altersschwäche des Großherzogs unberechenbaren Schaden
stiften konnte, gänzlich entwaffnet. Am 17. December wurde das Grund-
gesetz unterzeichnet und alsdann, unter neuen Ausbrüchen stürmischer Freude,
von den Kammern entgegengenommen.

Die hessische Verfassung war der badischen sehr ähnlich; jedoch be-
stand die erste Kammer, nach dem Vorbilde Württembergs, nur aus den
Standesherren und einigen vom Landesherrn Ernannten. Die Mitglieder
der Ritterschaft erhielten ihren Platz in der zweiten Kammer neben den
Abgeordneten der großen Städte und der gemischten Wahlbezirke, damit
"das aristokratische Princip nicht zu sehr die Oberhand gewinne"; und nach-
dem man während des Verfassungskampfes genugsam erfahren hatte, wie
niedrig die alten reichsunmittelbaren Geschlechter den Werth einer darm-
städtischen Pairie schätzten, so half man sich, gleich den Württembergern,
durch die wunderliche Vorschrift, daß eine nicht vollzählig erschienene
Kammer als einwilligend angesehen werden solle. Ueber die Beschluß-
fähigkeit der zweiten Kammer enthielt die hessische Verfassung, wie alle
die anderen neuen Grundgesetze des Südens, sehr kleinliche Bestimmungen.
Da die Bureaukratie den gesetzgebenden Körper wie ein Regierungscolle-
gium, das seine Amtsstunden absitzen muß, betrachtete, und die Volksver-
treter überdies Tagegelder bezogen, so forderten die süddeutschen Ver-
fassungen allesammt, daß mindestens die größere Hälfte, in Baiern und
Württemberg sogar zwei Drittel der Abgeordneten immer anwesend sein
müßten -- eine pedantische Kleinmeisterei, welche seitdem eine traurige
Eigenthümlichkeit des deutschen Parlamentarismus geblieben ist und sein
Ansehen im Volke schwer geschädigt hat.

*) Eingabe des Prinzen Emil und der Offiziere des Chevauxlegers-Regiments an
den Großherzog, Nov. 1820.

III. 1. Die Wiener Conferenzen.
liehen werden ſolle. So erſchien das Grundgeſetz, obwohl es in Wahr-
heit mit dem Landtage vereinbart war, der Form nach als eine gegebene
Verfaſſung, und das den ſtrengen Monarchiſten ſo unheimliche Schreckbild
eines politiſchen Grundvertrages war glücklich vermieden. Zur ſelben
Zeit wurde Leutnant Schulz aus der Armee entlaſſen, nachdem Prinz
Emil und die Offiziere ſeines Reiter-Regiments den Großherzog dringend
um „die Entfernung dieſes Unwürdigen“ gebeten hatten; und nun erſt
ſöhnten ſich die Prinzen mit der neuen Ordnung der Dinge völlig aus.*)
Aus Ehrfurcht vor dem greiſen Landesherrn ließen ſich die Landſtände
gleichfalls die Form der Verfaſſungsverleihung wohl gefallen, da ſie in
der Sache doch faſt alle ihre Wünſche durchgeſetzt hatten; ſie widerſprachen
auch nicht, als der Miniſter die fragwürdige Behauptung aufſtellte, daß
die Weisheit des Großherzogs ſchon im März Alles genau ſo wie es ge-
kommen ſei vorhergeſehen habe. Genug, Grolmann hatte, gewandt und
feſt, zuerſt die Radikalen geſchlagen, dann die höfiſche Oppoſition, die bei
der beginnenden Altersſchwäche des Großherzogs unberechenbaren Schaden
ſtiften konnte, gänzlich entwaffnet. Am 17. December wurde das Grund-
geſetz unterzeichnet und alsdann, unter neuen Ausbrüchen ſtürmiſcher Freude,
von den Kammern entgegengenommen.

Die heſſiſche Verfaſſung war der badiſchen ſehr ähnlich; jedoch be-
ſtand die erſte Kammer, nach dem Vorbilde Württembergs, nur aus den
Standesherren und einigen vom Landesherrn Ernannten. Die Mitglieder
der Ritterſchaft erhielten ihren Platz in der zweiten Kammer neben den
Abgeordneten der großen Städte und der gemiſchten Wahlbezirke, damit
„das ariſtokratiſche Princip nicht zu ſehr die Oberhand gewinne“; und nach-
dem man während des Verfaſſungskampfes genugſam erfahren hatte, wie
niedrig die alten reichsunmittelbaren Geſchlechter den Werth einer darm-
ſtädtiſchen Pairie ſchätzten, ſo half man ſich, gleich den Württembergern,
durch die wunderliche Vorſchrift, daß eine nicht vollzählig erſchienene
Kammer als einwilligend angeſehen werden ſolle. Ueber die Beſchluß-
fähigkeit der zweiten Kammer enthielt die heſſiſche Verfaſſung, wie alle
die anderen neuen Grundgeſetze des Südens, ſehr kleinliche Beſtimmungen.
Da die Bureaukratie den geſetzgebenden Körper wie ein Regierungscolle-
gium, das ſeine Amtsſtunden abſitzen muß, betrachtete, und die Volksver-
treter überdies Tagegelder bezogen, ſo forderten die ſüddeutſchen Ver-
faſſungen alleſammt, daß mindeſtens die größere Hälfte, in Baiern und
Württemberg ſogar zwei Drittel der Abgeordneten immer anweſend ſein
müßten — eine pedantiſche Kleinmeiſterei, welche ſeitdem eine traurige
Eigenthümlichkeit des deutſchen Parlamentarismus geblieben iſt und ſein
Anſehen im Volke ſchwer geſchädigt hat.

*) Eingabe des Prinzen Emil und der Offiziere des Chevauxlegers-Regiments an
den Großherzog, Nov. 1820.
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[66/0082] III. 1. Die Wiener Conferenzen. liehen werden ſolle. So erſchien das Grundgeſetz, obwohl es in Wahr- heit mit dem Landtage vereinbart war, der Form nach als eine gegebene Verfaſſung, und das den ſtrengen Monarchiſten ſo unheimliche Schreckbild eines politiſchen Grundvertrages war glücklich vermieden. Zur ſelben Zeit wurde Leutnant Schulz aus der Armee entlaſſen, nachdem Prinz Emil und die Offiziere ſeines Reiter-Regiments den Großherzog dringend um „die Entfernung dieſes Unwürdigen“ gebeten hatten; und nun erſt ſöhnten ſich die Prinzen mit der neuen Ordnung der Dinge völlig aus. *) Aus Ehrfurcht vor dem greiſen Landesherrn ließen ſich die Landſtände gleichfalls die Form der Verfaſſungsverleihung wohl gefallen, da ſie in der Sache doch faſt alle ihre Wünſche durchgeſetzt hatten; ſie widerſprachen auch nicht, als der Miniſter die fragwürdige Behauptung aufſtellte, daß die Weisheit des Großherzogs ſchon im März Alles genau ſo wie es ge- kommen ſei vorhergeſehen habe. Genug, Grolmann hatte, gewandt und feſt, zuerſt die Radikalen geſchlagen, dann die höfiſche Oppoſition, die bei der beginnenden Altersſchwäche des Großherzogs unberechenbaren Schaden ſtiften konnte, gänzlich entwaffnet. Am 17. December wurde das Grund- geſetz unterzeichnet und alsdann, unter neuen Ausbrüchen ſtürmiſcher Freude, von den Kammern entgegengenommen. Die heſſiſche Verfaſſung war der badiſchen ſehr ähnlich; jedoch be- ſtand die erſte Kammer, nach dem Vorbilde Württembergs, nur aus den Standesherren und einigen vom Landesherrn Ernannten. Die Mitglieder der Ritterſchaft erhielten ihren Platz in der zweiten Kammer neben den Abgeordneten der großen Städte und der gemiſchten Wahlbezirke, damit „das ariſtokratiſche Princip nicht zu ſehr die Oberhand gewinne“; und nach- dem man während des Verfaſſungskampfes genugſam erfahren hatte, wie niedrig die alten reichsunmittelbaren Geſchlechter den Werth einer darm- ſtädtiſchen Pairie ſchätzten, ſo half man ſich, gleich den Württembergern, durch die wunderliche Vorſchrift, daß eine nicht vollzählig erſchienene Kammer als einwilligend angeſehen werden ſolle. Ueber die Beſchluß- fähigkeit der zweiten Kammer enthielt die heſſiſche Verfaſſung, wie alle die anderen neuen Grundgeſetze des Südens, ſehr kleinliche Beſtimmungen. Da die Bureaukratie den geſetzgebenden Körper wie ein Regierungscolle- gium, das ſeine Amtsſtunden abſitzen muß, betrachtete, und die Volksver- treter überdies Tagegelder bezogen, ſo forderten die ſüddeutſchen Ver- faſſungen alleſammt, daß mindeſtens die größere Hälfte, in Baiern und Württemberg ſogar zwei Drittel der Abgeordneten immer anweſend ſein müßten — eine pedantiſche Kleinmeiſterei, welche ſeitdem eine traurige Eigenthümlichkeit des deutſchen Parlamentarismus geblieben iſt und ſein Anſehen im Volke ſchwer geſchädigt hat. *) Eingabe des Prinzen Emil und der Offiziere des Chevauxlegers-Regiments an den Großherzog, Nov. 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/82>, abgerufen am 30.04.2024.