Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.
Nur, dünkt mir, fehlt ihm noch der volle Schluß. Wer weiß, ob wirklich denn das Kind versank, Ob nicht ein fremdes Schiff vorüberfuhr, Das flugs an Bord den armen Fündling nahm, Den morschen Kahn der Meerfluth überließ? Vielleicht auf einer Insel, wie die unsre, Ward dann das schwache Kindlein abgesetzt, Von frommen Händen sorgsamlich gepflegt, Und ist zur holden Jungfrau nun erblüht. Balder. Du weißt geschickt ein Mährchen auszuspinnen. So laß nun deines hören, wenn's beliebt! Richard. In vor'gen Tagen wußt' ich manche Mähr' Von unsern alten Herzogen und Helden Und sonderlich vom Richard Ohnefurcht, Der Nachts so hell alswie am Tage sah, Der durch den öden Wald allnächtlich ritt Und mit Gespenstern manchen Strauß bestand; Doch jetzt ist mein Gedächtniß alterschwach, Verworren schwankt mir Alles vor dem Sinn. Drum soll das junge Mädchen mich vertreten, Das dort so still und abgewendet sitzt Und Netze strickt bei'm trüben Lampenschein. Sie hat sich manches gute Lied gemerkt Und hat 'ne Kehle, wie die Nachtigall. Thorilde! darfst den edeln Gast nicht scheun, Sing uns das Lied vom Mägdlein und vom Ring, Das einst der alte Sänger dir gereimt! Ein feines Lied! ich weiß, du singst es gern.
Nur, dünkt mir, fehlt ihm noch der volle Schluß. Wer weiß, ob wirklich denn das Kind verſank, Ob nicht ein fremdes Schiff vorüberfuhr, Das flugs an Bord den armen Fündling nahm, Den morſchen Kahn der Meerfluth überließ? Vielleicht auf einer Inſel, wie die unſre, Ward dann das ſchwache Kindlein abgeſetzt, Von frommen Händen ſorgſamlich gepflegt, Und iſt zur holden Jungfrau nun erblüht. Balder. Du weißt geſchickt ein Mährchen auszuſpinnen. So laß nun deines hören, wenn’s beliebt! Richard. In vor’gen Tagen wußt’ ich manche Mähr’ Von unſern alten Herzogen und Helden Und ſonderlich vom Richard Ohnefurcht, Der Nachts ſo hell alswie am Tage ſah, Der durch den öden Wald allnächtlich ritt Und mit Geſpenſtern manchen Strauß beſtand; Doch jetzt iſt mein Gedächtniß alterſchwach, Verworren ſchwankt mir Alles vor dem Sinn. Drum ſoll das junge Mädchen mich vertreten, Das dort ſo ſtill und abgewendet ſitzt Und Netze ſtrickt bei’m trüben Lampenſchein. Sie hat ſich manches gute Lied gemerkt Und hat ’ne Kehle, wie die Nachtigall. Thorilde! darfſt den edeln Gaſt nicht ſcheun, Sing uns das Lied vom Mägdlein und vom Ring, Das einſt der alte Sänger dir gereimt! Ein feines Lied! ich weiß, du ſingſt es gern. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#RICH"> <p><pb facs="#f0155" n="149"/> Nur, dünkt mir, fehlt ihm noch der volle Schluß.<lb/> Wer weiß, ob wirklich denn das Kind verſank,<lb/> Ob nicht ein fremdes Schiff vorüberfuhr,<lb/> Das flugs an Bord den armen Fündling nahm,<lb/> Den morſchen Kahn der Meerfluth überließ?<lb/> Vielleicht auf einer Inſel, wie die unſre,<lb/> Ward dann das ſchwache Kindlein abgeſetzt,<lb/> Von frommen Händen ſorgſamlich gepflegt,<lb/> Und iſt zur holden Jungfrau nun erblüht.</p> </sp><lb/> <sp who="#BAL"> <speaker><hi rendition="#g">Balder</hi>.</speaker><lb/> <p>Du weißt geſchickt ein Mährchen auszuſpinnen.<lb/> So laß nun deines hören, wenn’s beliebt!</p> </sp><lb/> <sp who="#RICH"> <speaker><hi rendition="#g">Richard</hi>.</speaker><lb/> <p>In vor’gen Tagen wußt’ ich manche Mähr’<lb/> Von unſern alten Herzogen und Helden<lb/> Und ſonderlich vom Richard Ohnefurcht,<lb/> Der Nachts ſo hell alswie am Tage ſah,<lb/> Der durch den öden Wald allnächtlich ritt<lb/> Und mit Geſpenſtern manchen Strauß beſtand;<lb/> Doch jetzt iſt mein Gedächtniß alterſchwach,<lb/> Verworren ſchwankt mir Alles vor dem Sinn.<lb/> Drum ſoll das junge Mädchen mich vertreten,<lb/> Das dort ſo ſtill und abgewendet ſitzt<lb/> Und Netze ſtrickt bei’m trüben Lampenſchein.<lb/> Sie hat ſich manches gute Lied gemerkt<lb/> Und hat ’ne Kehle, wie die Nachtigall.<lb/> Thorilde! darfſt den edeln Gaſt nicht ſcheun,<lb/> Sing uns das Lied vom Mägdlein und vom Ring,<lb/> Das einſt der alte Sänger dir gereimt!<lb/> Ein feines Lied! ich weiß, du ſingſt es gern.</p> </sp><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [149/0155]
Nur, dünkt mir, fehlt ihm noch der volle Schluß.
Wer weiß, ob wirklich denn das Kind verſank,
Ob nicht ein fremdes Schiff vorüberfuhr,
Das flugs an Bord den armen Fündling nahm,
Den morſchen Kahn der Meerfluth überließ?
Vielleicht auf einer Inſel, wie die unſre,
Ward dann das ſchwache Kindlein abgeſetzt,
Von frommen Händen ſorgſamlich gepflegt,
Und iſt zur holden Jungfrau nun erblüht.
Balder.
Du weißt geſchickt ein Mährchen auszuſpinnen.
So laß nun deines hören, wenn’s beliebt!
Richard.
In vor’gen Tagen wußt’ ich manche Mähr’
Von unſern alten Herzogen und Helden
Und ſonderlich vom Richard Ohnefurcht,
Der Nachts ſo hell alswie am Tage ſah,
Der durch den öden Wald allnächtlich ritt
Und mit Geſpenſtern manchen Strauß beſtand;
Doch jetzt iſt mein Gedächtniß alterſchwach,
Verworren ſchwankt mir Alles vor dem Sinn.
Drum ſoll das junge Mädchen mich vertreten,
Das dort ſo ſtill und abgewendet ſitzt
Und Netze ſtrickt bei’m trüben Lampenſchein.
Sie hat ſich manches gute Lied gemerkt
Und hat ’ne Kehle, wie die Nachtigall.
Thorilde! darfſt den edeln Gaſt nicht ſcheun,
Sing uns das Lied vom Mägdlein und vom Ring,
Das einſt der alte Sänger dir gereimt!
Ein feines Lied! ich weiß, du ſingſt es gern.
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Zitationshilfe: | Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/155>, abgerufen am 16.06.2024. |