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Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.

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So fürder von Abend zu Morgen, von Morgen zu Abend,
Mit Liebe sich nährend, mit seliger Hoffnung sich labend;
Zum drittenmal hebt sich die Sonne, da ist es geschehen,
Dort seht ihr Marien, die wonniglich weinende, stehen.
"Guten Morgen, Marie! was seh' ich! o fleißige Hände!
Gemäht ist die Wiese! das lohn' ich mit reichlicher Spende;
Allein mit der Heurath -- du nahmest im Ernste mein Scherzen,
Leichtgläubig, man sieht es, und thöricht sind liebende Herzen."
Er spricht es und gehet des Wegs, doch der armen Marie
Erstarret das Herz, ihr brechen die bebenden Kniee.
Die Sprache verloren, Gefühl und Besinnung geschwunden,
So wird sie, die Mähderin, dort in den Mahden gefunden.
So lebt sie noch Jahre, so stummer, erstorbener Weise,
Und Honig, ein Tropfen, das ist ihr die einzige Speise.
O haltet ein Grab ihr bereit auf der blühendsten Wiese!
So liebende Mähderin gab es doch nimmer, wie diese.

So fürder von Abend zu Morgen, von Morgen zu Abend,
Mit Liebe ſich nährend, mit ſeliger Hoffnung ſich labend;
Zum drittenmal hebt ſich die Sonne, da iſt es geſchehen,
Dort ſeht ihr Marien, die wonniglich weinende, ſtehen.
„Guten Morgen, Marie! was ſeh’ ich! o fleißige Hände!
Gemäht iſt die Wieſe! das lohn’ ich mit reichlicher Spende;
Allein mit der Heurath — du nahmeſt im Ernſte mein Scherzen,
Leichtgläubig, man ſieht es, und thöricht ſind liebende Herzen.“
Er ſpricht es und gehet des Wegs, doch der armen Marie
Erſtarret das Herz, ihr brechen die bebenden Kniee.
Die Sprache verloren, Gefühl und Beſinnung geſchwunden,
So wird ſie, die Mähderin, dort in den Mahden gefunden.
So lebt ſie noch Jahre, ſo ſtummer, erſtorbener Weiſe,
Und Honig, ein Tropfen, das iſt ihr die einzige Speiſe.
O haltet ein Grab ihr bereit auf der blühendſten Wieſe!
So liebende Mähderin gab es doch nimmer, wie dieſe.

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[210/0216] So fürder von Abend zu Morgen, von Morgen zu Abend, Mit Liebe ſich nährend, mit ſeliger Hoffnung ſich labend; Zum drittenmal hebt ſich die Sonne, da iſt es geſchehen, Dort ſeht ihr Marien, die wonniglich weinende, ſtehen. „Guten Morgen, Marie! was ſeh’ ich! o fleißige Hände! Gemäht iſt die Wieſe! das lohn’ ich mit reichlicher Spende; Allein mit der Heurath — du nahmeſt im Ernſte mein Scherzen, Leichtgläubig, man ſieht es, und thöricht ſind liebende Herzen.“ Er ſpricht es und gehet des Wegs, doch der armen Marie Erſtarret das Herz, ihr brechen die bebenden Kniee. Die Sprache verloren, Gefühl und Beſinnung geſchwunden, So wird ſie, die Mähderin, dort in den Mahden gefunden. So lebt ſie noch Jahre, ſo ſtummer, erſtorbener Weiſe, Und Honig, ein Tropfen, das iſt ihr die einzige Speiſe. O haltet ein Grab ihr bereit auf der blühendſten Wieſe! So liebende Mähderin gab es doch nimmer, wie dieſe.

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Zitationshilfe: Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/216>, abgerufen am 29.04.2024.