Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

fähig, sich emporzurichten, fühlte sie ihre Glieder erstarren und ihr Herz gelähmt. Der Fremde machte eine Bewegung auf sie zu, und die Furcht, von ihm berührt zu werden, trieb die Zagende mit Gewalt in die Höhe. Die Treppe zum Chor emporeilend, verwickelte sich ihr Schleier an einer der Schnörkeleinfassungen, und das zarte Gewebe wurde von ihrem Haupte gerissen. O gütige Mutter Gottes! Welch ein furchtbares Zeichen! Der Schleier ist von meinem Haupte gefallen!

Diese Worte, in der Qual und im Entsetzen des Moments und ohne Rücksicht auf den Zuhörer ausgesprochen, schienen einen tiefen Eindruck auf den jungen Mann zu machen. Ehrerbietig näherte er sich mir dem gelös'ten Schleier und reichte ihn der Erschreckten. Vergieb mir, frommes Mädchen, sagte er in dem treuherzigen Tone eines jungen Landmannes, ich habe dich nicht beleidigen wollen. Wenn mein Auge die Reize deines Antlitzes erschaut hat, so betrachte dies nicht als ein Spiel frevelhaften Muthwillens. Gebiete, und ich verlasse sogleich die Kirche. Er wartete Scholastika's Wink nicht ab, er sah an ihrer bewegten Miene, an ihrer zitternden Gestalt, daß sein längeres Verweilen ihr Qual verursachte. Er verschwand aus der Kirche, und die Nonne sah sich bald von ihren Schwestern umgeben, die sie um den Grund ihrer Aufregung, ihrer Thränen befragten. Sie entging der Beantwortung dieser Fragen nur mit Mühe, indem sie sich rasch in ihr Zimmer begab, in welches sie sich für den Tag über einschloß.

fähig, sich emporzurichten, fühlte sie ihre Glieder erstarren und ihr Herz gelähmt. Der Fremde machte eine Bewegung auf sie zu, und die Furcht, von ihm berührt zu werden, trieb die Zagende mit Gewalt in die Höhe. Die Treppe zum Chor emporeilend, verwickelte sich ihr Schleier an einer der Schnörkeleinfassungen, und das zarte Gewebe wurde von ihrem Haupte gerissen. O gütige Mutter Gottes! Welch ein furchtbares Zeichen! Der Schleier ist von meinem Haupte gefallen!

Diese Worte, in der Qual und im Entsetzen des Moments und ohne Rücksicht auf den Zuhörer ausgesprochen, schienen einen tiefen Eindruck auf den jungen Mann zu machen. Ehrerbietig näherte er sich mir dem gelös'ten Schleier und reichte ihn der Erschreckten. Vergieb mir, frommes Mädchen, sagte er in dem treuherzigen Tone eines jungen Landmannes, ich habe dich nicht beleidigen wollen. Wenn mein Auge die Reize deines Antlitzes erschaut hat, so betrachte dies nicht als ein Spiel frevelhaften Muthwillens. Gebiete, und ich verlasse sogleich die Kirche. Er wartete Scholastika's Wink nicht ab, er sah an ihrer bewegten Miene, an ihrer zitternden Gestalt, daß sein längeres Verweilen ihr Qual verursachte. Er verschwand aus der Kirche, und die Nonne sah sich bald von ihren Schwestern umgeben, die sie um den Grund ihrer Aufregung, ihrer Thränen befragten. Sie entging der Beantwortung dieser Fragen nur mit Mühe, indem sie sich rasch in ihr Zimmer begab, in welches sie sich für den Tag über einschloß.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0045"/>
fähig, sich emporzurichten, fühlte sie ihre Glieder erstarren und ihr Herz gelähmt.                Der Fremde machte eine Bewegung auf sie zu, und die Furcht, von ihm berührt zu                werden, trieb die Zagende mit Gewalt in die Höhe. Die Treppe zum Chor emporeilend,                verwickelte sich ihr Schleier an einer der Schnörkeleinfassungen, und das zarte                Gewebe wurde von ihrem Haupte gerissen. O gütige Mutter Gottes! Welch ein furchtbares                Zeichen! Der Schleier ist von meinem Haupte gefallen!</p><lb/>
        <p>Diese Worte, in der Qual und im Entsetzen des Moments und ohne Rücksicht auf den                Zuhörer ausgesprochen, schienen einen tiefen Eindruck auf den jungen Mann zu machen.                Ehrerbietig näherte er sich mir dem gelös'ten Schleier und reichte ihn der                Erschreckten. Vergieb mir, frommes Mädchen, sagte er in dem treuherzigen Tone eines                jungen Landmannes, ich habe dich nicht beleidigen wollen. Wenn mein Auge die Reize                deines Antlitzes erschaut hat, so betrachte dies nicht als ein Spiel frevelhaften                Muthwillens. Gebiete, und ich verlasse sogleich die Kirche. Er wartete Scholastika's                Wink nicht ab, er sah an ihrer bewegten Miene, an ihrer zitternden Gestalt, daß sein                längeres Verweilen ihr Qual verursachte. Er verschwand aus der Kirche, und die Nonne                sah sich bald von ihren Schwestern umgeben, die sie um den Grund ihrer Aufregung,                ihrer Thränen befragten. Sie entging der Beantwortung dieser Fragen nur mit Mühe,                indem sie sich rasch in ihr Zimmer begab, in welches sie sich für den Tag über                einschloß.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0045] fähig, sich emporzurichten, fühlte sie ihre Glieder erstarren und ihr Herz gelähmt. Der Fremde machte eine Bewegung auf sie zu, und die Furcht, von ihm berührt zu werden, trieb die Zagende mit Gewalt in die Höhe. Die Treppe zum Chor emporeilend, verwickelte sich ihr Schleier an einer der Schnörkeleinfassungen, und das zarte Gewebe wurde von ihrem Haupte gerissen. O gütige Mutter Gottes! Welch ein furchtbares Zeichen! Der Schleier ist von meinem Haupte gefallen! Diese Worte, in der Qual und im Entsetzen des Moments und ohne Rücksicht auf den Zuhörer ausgesprochen, schienen einen tiefen Eindruck auf den jungen Mann zu machen. Ehrerbietig näherte er sich mir dem gelös'ten Schleier und reichte ihn der Erschreckten. Vergieb mir, frommes Mädchen, sagte er in dem treuherzigen Tone eines jungen Landmannes, ich habe dich nicht beleidigen wollen. Wenn mein Auge die Reize deines Antlitzes erschaut hat, so betrachte dies nicht als ein Spiel frevelhaften Muthwillens. Gebiete, und ich verlasse sogleich die Kirche. Er wartete Scholastika's Wink nicht ab, er sah an ihrer bewegten Miene, an ihrer zitternden Gestalt, daß sein längeres Verweilen ihr Qual verursachte. Er verschwand aus der Kirche, und die Nonne sah sich bald von ihren Schwestern umgeben, die sie um den Grund ihrer Aufregung, ihrer Thränen befragten. Sie entging der Beantwortung dieser Fragen nur mit Mühe, indem sie sich rasch in ihr Zimmer begab, in welches sie sich für den Tag über einschloß.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:43:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:43:38Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/45
Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/45>, abgerufen am 28.04.2024.