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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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1 Abschn. überhaupt.
kung zugleich zur zufälligen Seelenwirkung der äußern Em-
pfindung eben desselben äußern sinnlichen Eindrucks. §. 97.
221. Nach der Enthauptung des Thieres erfolget diesel-
be Bewegung als mittelbare Nervenwirkung eines solchen
äußern sinnlichen Eindrucks, aber nicht mehr als zufällige
Seelenwirkung seiner äußern Empfindung, weil das Em-
pfinden nicht mehr Statt findet. Weil sie aber zuvor im-
mer zugleich die zufällige Seelenwirkung der Empfindung
dieses äußern sinnlichen Eindrucks, und eine willkührliche
Bewegung war; so setzen wir voraus, daß sie dieß ihrer
Natur nach, und allezeit seyn müsse, und finden es wun-
derbar, da sie itzt nicht mehr willkührlich seyn kann. So
ist es in allen Fällen. Nur diejenigen mittelbaren Ner-
venwirkungen setzen uns in Bewunderung, von welchen wir
gewohnt sind, sie ihrer Natur nach, allezeit für Seelenwir-
kungen zu halten. Es rühret uns wenig, daß wir einen
Muskel an einem enthaupteten Thiere zucken sehen, wenn
er berühret wird, weil wir diese Berührung oft empfinden,
ohne das Zucken zugleich mit empfunden oder bemerket zu
haben. Hingegen wenn wir sehen, daß sich ein solches
Thier von einer heftigen Berührung aufrichtet und ent-
springt, so bewundern wir es, weil eine solche Empfindung
zuvor immer mit dem sinnlich willkührlich gefaßten Ent-
schlusse zu entfliehen verbunden war, von dem wir doch
wissen, daß er itzt nicht Statt finden kann. Wäre diese
Bewegung bey dem gesunden Thiere nicht immer mit der-
selben schmerzhaften Empfindung verbunden gewesen, so
würden wir sie das enthauptete Thier machen sehen, ohne
daran zu denken, daß sie einer willkührlichen Handlung
ähnlich schiene, und um deswillen itzt wunderbar wäre.

§. 439.

Es erhellet aus dem Bisherigen die schon oben §. 366.
und 398 -- 401. erwiesene Möglichkeit noch viel deutli-
cher, daß die hirnlosen Thiere, ob sie gleich, aus Mangel
der Vorstellungskraft, ganz unempfindlich sind, dennoch

durch

1 Abſchn. uͤberhaupt.
kung zugleich zur zufaͤlligen Seelenwirkung der aͤußern Em-
pfindung eben deſſelben aͤußern ſinnlichen Eindrucks. §. 97.
221. Nach der Enthauptung des Thieres erfolget dieſel-
be Bewegung als mittelbare Nervenwirkung eines ſolchen
aͤußern ſinnlichen Eindrucks, aber nicht mehr als zufaͤllige
Seelenwirkung ſeiner aͤußern Empfindung, weil das Em-
pfinden nicht mehr Statt findet. Weil ſie aber zuvor im-
mer zugleich die zufaͤllige Seelenwirkung der Empfindung
dieſes aͤußern ſinnlichen Eindrucks, und eine willkuͤhrliche
Bewegung war; ſo ſetzen wir voraus, daß ſie dieß ihrer
Natur nach, und allezeit ſeyn muͤſſe, und finden es wun-
derbar, da ſie itzt nicht mehr willkuͤhrlich ſeyn kann. So
iſt es in allen Faͤllen. Nur diejenigen mittelbaren Ner-
venwirkungen ſetzen uns in Bewunderung, von welchen wir
gewohnt ſind, ſie ihrer Natur nach, allezeit fuͤr Seelenwir-
kungen zu halten. Es ruͤhret uns wenig, daß wir einen
Muskel an einem enthaupteten Thiere zucken ſehen, wenn
er beruͤhret wird, weil wir dieſe Beruͤhrung oft empfinden,
ohne das Zucken zugleich mit empfunden oder bemerket zu
haben. Hingegen wenn wir ſehen, daß ſich ein ſolches
Thier von einer heftigen Beruͤhrung aufrichtet und ent-
ſpringt, ſo bewundern wir es, weil eine ſolche Empfindung
zuvor immer mit dem ſinnlich willkuͤhrlich gefaßten Ent-
ſchluſſe zu entfliehen verbunden war, von dem wir doch
wiſſen, daß er itzt nicht Statt finden kann. Waͤre dieſe
Bewegung bey dem geſunden Thiere nicht immer mit der-
ſelben ſchmerzhaften Empfindung verbunden geweſen, ſo
wuͤrden wir ſie das enthauptete Thier machen ſehen, ohne
daran zu denken, daß ſie einer willkuͤhrlichen Handlung
aͤhnlich ſchiene, und um deswillen itzt wunderbar waͤre.

§. 439.

Es erhellet aus dem Bisherigen die ſchon oben §. 366.
und 398 — 401. erwieſene Moͤglichkeit noch viel deutli-
cher, daß die hirnloſen Thiere, ob ſie gleich, aus Mangel
der Vorſtellungskraft, ganz unempfindlich ſind, dennoch

durch
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[443/0467] 1 Abſchn. uͤberhaupt. kung zugleich zur zufaͤlligen Seelenwirkung der aͤußern Em- pfindung eben deſſelben aͤußern ſinnlichen Eindrucks. §. 97. 221. Nach der Enthauptung des Thieres erfolget dieſel- be Bewegung als mittelbare Nervenwirkung eines ſolchen aͤußern ſinnlichen Eindrucks, aber nicht mehr als zufaͤllige Seelenwirkung ſeiner aͤußern Empfindung, weil das Em- pfinden nicht mehr Statt findet. Weil ſie aber zuvor im- mer zugleich die zufaͤllige Seelenwirkung der Empfindung dieſes aͤußern ſinnlichen Eindrucks, und eine willkuͤhrliche Bewegung war; ſo ſetzen wir voraus, daß ſie dieß ihrer Natur nach, und allezeit ſeyn muͤſſe, und finden es wun- derbar, da ſie itzt nicht mehr willkuͤhrlich ſeyn kann. So iſt es in allen Faͤllen. Nur diejenigen mittelbaren Ner- venwirkungen ſetzen uns in Bewunderung, von welchen wir gewohnt ſind, ſie ihrer Natur nach, allezeit fuͤr Seelenwir- kungen zu halten. Es ruͤhret uns wenig, daß wir einen Muskel an einem enthaupteten Thiere zucken ſehen, wenn er beruͤhret wird, weil wir dieſe Beruͤhrung oft empfinden, ohne das Zucken zugleich mit empfunden oder bemerket zu haben. Hingegen wenn wir ſehen, daß ſich ein ſolches Thier von einer heftigen Beruͤhrung aufrichtet und ent- ſpringt, ſo bewundern wir es, weil eine ſolche Empfindung zuvor immer mit dem ſinnlich willkuͤhrlich gefaßten Ent- ſchluſſe zu entfliehen verbunden war, von dem wir doch wiſſen, daß er itzt nicht Statt finden kann. Waͤre dieſe Bewegung bey dem geſunden Thiere nicht immer mit der- ſelben ſchmerzhaften Empfindung verbunden geweſen, ſo wuͤrden wir ſie das enthauptete Thier machen ſehen, ohne daran zu denken, daß ſie einer willkuͤhrlichen Handlung aͤhnlich ſchiene, und um deswillen itzt wunderbar waͤre. §. 439. Es erhellet aus dem Bisherigen die ſchon oben §. 366. und 398 — 401. erwieſene Moͤglichkeit noch viel deutli- cher, daß die hirnloſen Thiere, ob ſie gleich, aus Mangel der Vorſtellungskraft, ganz unempfindlich ſind, dennoch durch

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/467>, abgerufen am 08.05.2024.