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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
der untergeordneten Specialitäten sich häuft, um so schwerer ist
es, den Einheitspunkt und die Verbindung klar im Auge zu be-
halten, und doch fühlen wir wohl, dass durch die Mannigfaltig-
keit des Einzelnen jener nichts weniger als aufgehoben, sondern
nur mehr individualisirt wird.

3. Theile von gleicher Bedeutung haben einen durchaus
gleichen Gang der Entwickelung, sowohl für sich, als im Ver-
hältniss zu dem nächst höheren und höchsten Ganzen. Dieser
Satz ist im allgemeinsten Sinne ausgesprochen durchaus wahr,
und auf seiner Voraussetzung beruht sogar die Möglichkeit aller
Erkenntniss, aller Wissenschaft. Wenn aber bei der speciellen
Anwendung scheinbare Ausnahmen sich finden, so sind diese nur
durch unsere Auffassungsweise dadurch bedingt, dass wir Einzel-
heiten statt der allseitigen Beziehungen aufgenommen, dass wir die
Bedeutung eines Theilorganismus nur halb erkannt und daher von
einem unrichtigen Standpunkte und in einem unwahren Verhältnisse
angesehen haben. Weil wir sie nicht begreifen, deshalb geht die
Einheit der Natur nicht von ihrem bestimmten und fixirten Wege ab.

4. Wenn man dasjenige, in welchem die Uridee sich noch
einfacher ausspricht, mit dem Namen des Allgemeinen belegt,
dasjenige dagegen, in welchem sie schon mehr specialisirt ist, als
Besonderes bezeichnet, so lässt sich als Urgesetz angeben: der
Zeit wie dem Raume nach erscheint das Allgemeine vor dem
Besonderen. Da jedoch diese Ausdrücke etwas Schiefes und Un-
richtiges haben, da die Bezeichnung der speciellsten Individuali-
tät in ihnen nicht enthalten ist, so können wir in Voraussetzung
des oben Gesagten und in Uebereinstimmung mit demselben den
Satz dahin abändern, dass in dem individuellen Keime die durch
die speciellste Individualität hervorleuchtende und in ihr enthal-
tene Uridee sich immer mehr specialisirt, bis sie zuletzt zur in-
dividuellsten Uridee wird, d. h. mit der einzelnen Individualität
selbst zusammenfällt.

5. Es liegt aber zunächst in der Natur unseres Auffassungs-
vermögens, dass wir bei jeder Reihe von Specialitäten das nächste
Ganze, welches dieses umschliesst, ins Auge fassen und als etwas
Gesondertes und für sich Bestehendes angesehen, gleichsam als
fürchteten wir uns zu verwirren, wenn wir die einzelnen Ver-
hältnisse zu dem entfernt höheren und höchsten Ganzen zur An-
schauung bringen wollten -- eine Furcht, welche bei der Indivi-

Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
der untergeordneten Specialitäten sich häuft, um so schwerer ist
es, den Einheitspunkt und die Verbindung klar im Auge zu be-
halten, und doch fühlen wir wohl, daſs durch die Mannigfaltig-
keit des Einzelnen jener nichts weniger als aufgehoben, sondern
nur mehr individualisirt wird.

3. Theile von gleicher Bedeutung haben einen durchaus
gleichen Gang der Entwickelung, sowohl für sich, als im Ver-
hältniſs zu dem nächst höheren und höchsten Ganzen. Dieser
Satz ist im allgemeinsten Sinne ausgesprochen durchaus wahr,
und auf seiner Voraussetzung beruht sogar die Möglichkeit aller
Erkenntniſs, aller Wissenschaft. Wenn aber bei der speciellen
Anwendung scheinbare Ausnahmen sich finden, so sind diese nur
durch unsere Auffassungsweise dadurch bedingt, daſs wir Einzel-
heiten statt der allseitigen Beziehungen aufgenommen, daſs wir die
Bedeutung eines Theilorganismus nur halb erkannt und daher von
einem unrichtigen Standpunkte und in einem unwahren Verhältnisse
angesehen haben. Weil wir sie nicht begreifen, deshalb geht die
Einheit der Natur nicht von ihrem bestimmten und fixirten Wege ab.

4. Wenn man dasjenige, in welchem die Uridee sich noch
einfacher ausspricht, mit dem Namen des Allgemeinen belegt,
dasjenige dagegen, in welchem sie schon mehr specialisirt ist, als
Besonderes bezeichnet, so läſst sich als Urgesetz angeben: der
Zeit wie dem Raume nach erscheint das Allgemeine vor dem
Besonderen. Da jedoch diese Ausdrücke etwas Schiefes und Un-
richtiges haben, da die Bezeichnung der speciellsten Individuali-
tät in ihnen nicht enthalten ist, so können wir in Voraussetzung
des oben Gesagten und in Uebereinstimmung mit demselben den
Satz dahin abändern, daſs in dem individuellen Keime die durch
die speciellste Individualität hervorleuchtende und in ihr enthal-
tene Uridee sich immer mehr specialisirt, bis sie zuletzt zur in-
dividuellsten Uridee wird, d. h. mit der einzelnen Individualität
selbst zusammenfällt.

5. Es liegt aber zunächst in der Natur unseres Auffassungs-
vermögens, daſs wir bei jeder Reihe von Specialitäten das nächste
Ganze, welches dieses umschlieſst, ins Auge fassen und als etwas
Gesondertes und für sich Bestehendes angesehen, gleichsam als
fürchteten wir uns zu verwirren, wenn wir die einzelnen Ver-
hältnisse zu dem entfernt höheren und höchsten Ganzen zur An-
schauung bringen wollten — eine Furcht, welche bei der Indivi-

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[614/0642] Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung. der untergeordneten Specialitäten sich häuft, um so schwerer ist es, den Einheitspunkt und die Verbindung klar im Auge zu be- halten, und doch fühlen wir wohl, daſs durch die Mannigfaltig- keit des Einzelnen jener nichts weniger als aufgehoben, sondern nur mehr individualisirt wird. 3. Theile von gleicher Bedeutung haben einen durchaus gleichen Gang der Entwickelung, sowohl für sich, als im Ver- hältniſs zu dem nächst höheren und höchsten Ganzen. Dieser Satz ist im allgemeinsten Sinne ausgesprochen durchaus wahr, und auf seiner Voraussetzung beruht sogar die Möglichkeit aller Erkenntniſs, aller Wissenschaft. Wenn aber bei der speciellen Anwendung scheinbare Ausnahmen sich finden, so sind diese nur durch unsere Auffassungsweise dadurch bedingt, daſs wir Einzel- heiten statt der allseitigen Beziehungen aufgenommen, daſs wir die Bedeutung eines Theilorganismus nur halb erkannt und daher von einem unrichtigen Standpunkte und in einem unwahren Verhältnisse angesehen haben. Weil wir sie nicht begreifen, deshalb geht die Einheit der Natur nicht von ihrem bestimmten und fixirten Wege ab. 4. Wenn man dasjenige, in welchem die Uridee sich noch einfacher ausspricht, mit dem Namen des Allgemeinen belegt, dasjenige dagegen, in welchem sie schon mehr specialisirt ist, als Besonderes bezeichnet, so läſst sich als Urgesetz angeben: der Zeit wie dem Raume nach erscheint das Allgemeine vor dem Besonderen. Da jedoch diese Ausdrücke etwas Schiefes und Un- richtiges haben, da die Bezeichnung der speciellsten Individuali- tät in ihnen nicht enthalten ist, so können wir in Voraussetzung des oben Gesagten und in Uebereinstimmung mit demselben den Satz dahin abändern, daſs in dem individuellen Keime die durch die speciellste Individualität hervorleuchtende und in ihr enthal- tene Uridee sich immer mehr specialisirt, bis sie zuletzt zur in- dividuellsten Uridee wird, d. h. mit der einzelnen Individualität selbst zusammenfällt. 5. Es liegt aber zunächst in der Natur unseres Auffassungs- vermögens, daſs wir bei jeder Reihe von Specialitäten das nächste Ganze, welches dieses umschlieſst, ins Auge fassen und als etwas Gesondertes und für sich Bestehendes angesehen, gleichsam als fürchteten wir uns zu verwirren, wenn wir die einzelnen Ver- hältnisse zu dem entfernt höheren und höchsten Ganzen zur An- schauung bringen wollten — eine Furcht, welche bei der Indivi-

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/642>, abgerufen am 30.04.2024.