Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

in Sprachkenntnissen weit überlegen war. Mit ihm
las ich Epiktet und Cebes zuerst; Marc Antonin hatte
ich sehr frühe in einer französischen Uebersetzung gelesen,
und ehe ich noch Kant's Moralprincip kannte, hatte
ich mir schon die ächten Stoiker zum Muster gewählt,
und mir meine Heftigkeit, mein Weinen, wenn es mir
nicht nach Wunsche ging, abgewöhnt. Rollin's Ma¬
niere d'enseigner les belles lettres war mir schon
in meinem vierzehnten Jahre in die Hände gekommen,
und weckte in mir das Verlangen nach klassischer Lit¬
teratur, und mit meinem Freunde von Grundherr fand
ich die Gelegenheit, es zu stillen. Diesen konnte ich
bei Schwierigkeiten, die mir in lateinischen und griechi¬
schen Schriftstellern aufstießen, zu Rathe ziehen, und
er verlangte dafür öfter meinen Rath bei mathematischen
und philosophischen. So sehr entschieden seine Ueber¬
legenheit war, wo ich seiner bedurfte, so problematisch
war die meinige, da, wo er meiner zu bedürfen glaubte.
Unbedingte Liebe zur Wahrheit kettete uns an einander,
und seine Freundschaft für mich, die sich auf diese Ein¬
stimmung des Karakters gründete, ließ es nicht zu,
daß er der uneigennützige Wohlthäter gegen mich schien,
er wollte von mir bezahlt scheinen. Wir lebten mehrere
Jahre viele glückliche Stunden mit einander, und ohne
daß unsere Herzen sich getrennt haben, sind wir doch
durch einige unglückliche Ereignisse in unserm Verhält¬
nisse gestört worden. Diese Jahre der Freundschaft

in Sprachkenntniſſen weit uͤberlegen war. Mit ihm
las ich Epiktet und Cebes zuerſt; Marc Antonin hatte
ich ſehr fruͤhe in einer franzoͤſiſchen Ueberſetzung geleſen,
und ehe ich noch Kant's Moralprincip kannte, hatte
ich mir ſchon die aͤchten Stoiker zum Muſter gewaͤhlt,
und mir meine Heftigkeit, mein Weinen, wenn es mir
nicht nach Wunſche ging, abgewoͤhnt. Rollin's Ma¬
nière d'enseigner les belles lettres war mir ſchon
in meinem vierzehnten Jahre in die Haͤnde gekommen,
und weckte in mir das Verlangen nach klaſſiſcher Lit¬
teratur, und mit meinem Freunde von Grundherr fand
ich die Gelegenheit, es zu ſtillen. Dieſen konnte ich
bei Schwierigkeiten, die mir in lateiniſchen und griechi¬
ſchen Schriftſtellern aufſtießen, zu Rathe ziehen, und
er verlangte dafuͤr oͤfter meinen Rath bei mathematiſchen
und philoſophiſchen. So ſehr entſchieden ſeine Ueber¬
legenheit war, wo ich ſeiner bedurfte, ſo problematiſch
war die meinige, da, wo er meiner zu beduͤrfen glaubte.
Unbedingte Liebe zur Wahrheit kettete uns an einander,
und ſeine Freundſchaft fuͤr mich, die ſich auf dieſe Ein¬
ſtimmung des Karakters gruͤndete, ließ es nicht zu,
daß er der uneigennuͤtzige Wohlthaͤter gegen mich ſchien,
er wollte von mir bezahlt ſcheinen. Wir lebten mehrere
Jahre viele gluͤckliche Stunden mit einander, und ohne
daß unſere Herzen ſich getrennt haben, ſind wir doch
durch einige ungluͤckliche Ereigniſſe in unſerm Verhaͤlt¬
niſſe geſtoͤrt worden. Dieſe Jahre der Freundſchaft

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0258" n="244"/>
in Sprachkenntni&#x017F;&#x017F;en weit u&#x0364;berlegen war. Mit ihm<lb/>
las ich Epiktet und Cebes zuer&#x017F;t; Marc Antonin hatte<lb/>
ich &#x017F;ehr fru&#x0364;he in einer franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Ueber&#x017F;etzung gele&#x017F;en,<lb/>
und ehe ich noch Kant's Moralprincip kannte, hatte<lb/>
ich mir &#x017F;chon die a&#x0364;chten Stoiker zum Mu&#x017F;ter gewa&#x0364;hlt,<lb/>
und mir meine Heftigkeit, mein Weinen, wenn es mir<lb/>
nicht nach Wun&#x017F;che ging, abgewo&#x0364;hnt. Rollin's <hi rendition="#aq">Ma</hi>¬<lb/><hi rendition="#aq">nière d</hi>'<hi rendition="#aq">enseigner les belles lettres</hi> war mir &#x017F;chon<lb/>
in meinem vierzehnten Jahre in die Ha&#x0364;nde gekommen,<lb/>
und weckte in mir das Verlangen nach kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;cher Lit¬<lb/>
teratur, und mit meinem Freunde von Grundherr fand<lb/>
ich die Gelegenheit, es zu &#x017F;tillen. Die&#x017F;en konnte ich<lb/>
bei Schwierigkeiten, die mir in lateini&#x017F;chen und griechi¬<lb/>
&#x017F;chen Schrift&#x017F;tellern auf&#x017F;tießen, zu Rathe ziehen, und<lb/>
er verlangte dafu&#x0364;r o&#x0364;fter meinen Rath bei mathemati&#x017F;chen<lb/>
und philo&#x017F;ophi&#x017F;chen. So &#x017F;ehr ent&#x017F;chieden &#x017F;eine Ueber¬<lb/>
legenheit war, wo ich &#x017F;einer bedurfte, &#x017F;o problemati&#x017F;ch<lb/>
war die meinige, da, wo er meiner zu bedu&#x0364;rfen glaubte.<lb/>
Unbedingte Liebe zur Wahrheit kettete uns an einander,<lb/>
und &#x017F;eine Freund&#x017F;chaft fu&#x0364;r mich, die &#x017F;ich auf die&#x017F;e Ein¬<lb/>
&#x017F;timmung des Karakters gru&#x0364;ndete, ließ es nicht zu,<lb/>
daß er der uneigennu&#x0364;tzige Wohltha&#x0364;ter gegen mich &#x017F;chien,<lb/>
er wollte von mir bezahlt &#x017F;cheinen. Wir lebten mehrere<lb/>
Jahre viele glu&#x0364;ckliche Stunden mit einander, und ohne<lb/>
daß un&#x017F;ere Herzen &#x017F;ich getrennt haben, &#x017F;ind wir doch<lb/>
durch einige unglu&#x0364;ckliche Ereigni&#x017F;&#x017F;e in un&#x017F;erm Verha&#x0364;lt¬<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;to&#x0364;rt worden. Die&#x017F;e Jahre der Freund&#x017F;chaft<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[244/0258] in Sprachkenntniſſen weit uͤberlegen war. Mit ihm las ich Epiktet und Cebes zuerſt; Marc Antonin hatte ich ſehr fruͤhe in einer franzoͤſiſchen Ueberſetzung geleſen, und ehe ich noch Kant's Moralprincip kannte, hatte ich mir ſchon die aͤchten Stoiker zum Muſter gewaͤhlt, und mir meine Heftigkeit, mein Weinen, wenn es mir nicht nach Wunſche ging, abgewoͤhnt. Rollin's Ma¬ nière d'enseigner les belles lettres war mir ſchon in meinem vierzehnten Jahre in die Haͤnde gekommen, und weckte in mir das Verlangen nach klaſſiſcher Lit¬ teratur, und mit meinem Freunde von Grundherr fand ich die Gelegenheit, es zu ſtillen. Dieſen konnte ich bei Schwierigkeiten, die mir in lateiniſchen und griechi¬ ſchen Schriftſtellern aufſtießen, zu Rathe ziehen, und er verlangte dafuͤr oͤfter meinen Rath bei mathematiſchen und philoſophiſchen. So ſehr entſchieden ſeine Ueber¬ legenheit war, wo ich ſeiner bedurfte, ſo problematiſch war die meinige, da, wo er meiner zu beduͤrfen glaubte. Unbedingte Liebe zur Wahrheit kettete uns an einander, und ſeine Freundſchaft fuͤr mich, die ſich auf dieſe Ein¬ ſtimmung des Karakters gruͤndete, ließ es nicht zu, daß er der uneigennuͤtzige Wohlthaͤter gegen mich ſchien, er wollte von mir bezahlt ſcheinen. Wir lebten mehrere Jahre viele gluͤckliche Stunden mit einander, und ohne daß unſere Herzen ſich getrennt haben, ſind wir doch durch einige ungluͤckliche Ereigniſſe in unſerm Verhaͤlt¬ niſſe geſtoͤrt worden. Dieſe Jahre der Freundſchaft

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/258
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/258>, abgerufen am 14.05.2024.