Ein vornehmer, genialer Engländer, zu reich, um zu arbeiten, zu frei, um zu dienen, zu überdrüssig, um blos empfindend zu genießen, zu geistvoll, um ein Narr zu sein, zu unruhig, um nichts zu thun -- er dichtet. Die Poesie ist ihm, wie einst dem Grafen Alfieri, ein Surrogat des Lebens, daher, bei allen großen Vor¬ zügen seines Genie's, nicht glückliche Befriedigung, sondern trüber Behelf des zerrissenen Innern. Die Fluth des Tages trägt seine Werke, wie die Meeres¬ wogen die Schätze seiner Landsleute, auf den seemäch¬ tigsten Schiffen, unter der günstigsten Flagge.
2. Lady Morgan.
Als Miß Owenson zeigte sie früh in ihren Roma¬ nen tiefe Gluth des Herzens, hohen Adel der Seele, geistvolle Weltkenntniß, großen Natursinn. Als Lady Morgan reizte sie manche Feindschaft durch die Freiheit ihrer Denkart und die Offenheit ihrer Aeußerungen. Liebe für ihr Volk und Land -- sie ist eine Irländerin -- heißer Antheil bei dessen Unglück und Bedrückung, beseelt ohne Ausnahme alle ihre Schriften. Ihr dar¬ stellendes Talent ragt weit vor dem ihrer Rivalen empor, an Wärme, an Raschheit, an Tiefe und Wahr¬ heit des Sinnes.
Kritiſche Tagesworte.
1. Lord Byron.
Ein vornehmer, genialer Englaͤnder, zu reich, um zu arbeiten, zu frei, um zu dienen, zu uͤberdruͤſſig, um blos empfindend zu genießen, zu geiſtvoll, um ein Narr zu ſein, zu unruhig, um nichts zu thun — er dichtet. Die Poeſie iſt ihm, wie einſt dem Grafen Alfieri, ein Surrogat des Lebens, daher, bei allen großen Vor¬ zuͤgen ſeines Genie's, nicht gluͤckliche Befriedigung, ſondern truͤber Behelf des zerriſſenen Innern. Die Fluth des Tages traͤgt ſeine Werke, wie die Meeres¬ wogen die Schaͤtze ſeiner Landsleute, auf den ſeemaͤch¬ tigſten Schiffen, unter der guͤnſtigſten Flagge.
2. Lady Morgan.
Als Miß Owenſon zeigte ſie fruͤh in ihren Roma¬ nen tiefe Gluth des Herzens, hohen Adel der Seele, geiſtvolle Weltkenntniß, großen Naturſinn. Als Lady Morgan reizte ſie manche Feindſchaft durch die Freiheit ihrer Denkart und die Offenheit ihrer Aeußerungen. Liebe fuͤr ihr Volk und Land — ſie iſt eine Irlaͤnderin — heißer Antheil bei deſſen Ungluͤck und Bedruͤckung, beſeelt ohne Ausnahme alle ihre Schriften. Ihr dar¬ ſtellendes Talent ragt weit vor dem ihrer Rivalen empor, an Waͤrme, an Raſchheit, an Tiefe und Wahr¬ heit des Sinnes.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0346"n="332"/></div><divn="2"><head><hirendition="#g">Kritiſche Tagesworte.</hi><lb/></head><divn="3"><head>1. <hirendition="#g">Lord Byron.</hi><lb/></head><p>Ein vornehmer, genialer Englaͤnder, zu reich, um<lb/>
zu arbeiten, zu frei, um zu dienen, zu uͤberdruͤſſig, um<lb/>
blos empfindend zu genießen, zu geiſtvoll, um ein Narr<lb/>
zu ſein, zu unruhig, um nichts zu thun —<hirendition="#g">er dichtet</hi>.<lb/>
Die Poeſie iſt ihm, wie einſt dem Grafen Alfieri, ein<lb/>
Surrogat des Lebens, daher, bei allen großen Vor¬<lb/>
zuͤgen ſeines Genie's, nicht gluͤckliche Befriedigung,<lb/>ſondern truͤber Behelf des zerriſſenen Innern. Die<lb/>
Fluth des Tages traͤgt ſeine Werke, wie die Meeres¬<lb/>
wogen die Schaͤtze ſeiner Landsleute, auf den ſeemaͤch¬<lb/>
tigſten Schiffen, unter der guͤnſtigſten Flagge.</p><lb/></div><divn="3"><head>2. <hirendition="#g">Lady Morgan.</hi><lb/></head><p>Als Miß Owenſon zeigte ſie fruͤh in ihren Roma¬<lb/>
nen tiefe Gluth des Herzens, hohen Adel der Seele,<lb/>
geiſtvolle Weltkenntniß, großen Naturſinn. Als Lady<lb/>
Morgan reizte ſie manche Feindſchaft durch die Freiheit<lb/>
ihrer Denkart und die Offenheit ihrer Aeußerungen.<lb/>
Liebe fuͤr ihr Volk und Land —ſie iſt eine Irlaͤnderin<lb/>— heißer Antheil bei deſſen Ungluͤck und Bedruͤckung,<lb/>
beſeelt ohne Ausnahme alle ihre Schriften. Ihr dar¬<lb/>ſtellendes Talent ragt weit vor dem ihrer Rivalen<lb/>
empor, an Waͤrme, an Raſchheit, an Tiefe und Wahr¬<lb/>
heit des Sinnes.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[332/0346]
Kritiſche Tagesworte.
1. Lord Byron.
Ein vornehmer, genialer Englaͤnder, zu reich, um
zu arbeiten, zu frei, um zu dienen, zu uͤberdruͤſſig, um
blos empfindend zu genießen, zu geiſtvoll, um ein Narr
zu ſein, zu unruhig, um nichts zu thun — er dichtet.
Die Poeſie iſt ihm, wie einſt dem Grafen Alfieri, ein
Surrogat des Lebens, daher, bei allen großen Vor¬
zuͤgen ſeines Genie's, nicht gluͤckliche Befriedigung,
ſondern truͤber Behelf des zerriſſenen Innern. Die
Fluth des Tages traͤgt ſeine Werke, wie die Meeres¬
wogen die Schaͤtze ſeiner Landsleute, auf den ſeemaͤch¬
tigſten Schiffen, unter der guͤnſtigſten Flagge.
2. Lady Morgan.
Als Miß Owenſon zeigte ſie fruͤh in ihren Roma¬
nen tiefe Gluth des Herzens, hohen Adel der Seele,
geiſtvolle Weltkenntniß, großen Naturſinn. Als Lady
Morgan reizte ſie manche Feindſchaft durch die Freiheit
ihrer Denkart und die Offenheit ihrer Aeußerungen.
Liebe fuͤr ihr Volk und Land — ſie iſt eine Irlaͤnderin
— heißer Antheil bei deſſen Ungluͤck und Bedruͤckung,
beſeelt ohne Ausnahme alle ihre Schriften. Ihr dar¬
ſtellendes Talent ragt weit vor dem ihrer Rivalen
empor, an Waͤrme, an Raſchheit, an Tiefe und Wahr¬
heit des Sinnes.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/346>, abgerufen am 11.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.