Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

sehen. Nachdem aber die Franzosen jene Länder als
Sieger besetzt hatten, nahm er die Gelegenheit wahr,
und eines Tages, von französischen Beamten und Gen¬
darmen begleitet, forderte er unvermuthet im Namen
der Obrigkeit augenblicklichen Einlaß, der nun nicht zu
verweigern war; die Nonnen fanden keine Frist zu
irgend einer Vorbereitung, man drängte sie, und folgte
ihnen auf dem Fuße, und so mußten sie ungemildert
den jammervollsten Anblick offenbaren. Auf bloßer Erde
saß die Unselige ohne alle Bekleidung; kein Gewand,
kein Stroh, weder Tisch noch Stuhl, nur die nothdürf¬
tigsten Gefäße! Man brachte ihr zu essen, die Nonnen
boten ihr zwar Löffel und Gabel dringend an, sie aber
achtete nicht darauf, sondern nahm die Speisen eilig
mit den Fingern, schon längst jener Werkzeuge entwöhnt,
wie sich jetzt deutlich ergab, so gern die harten Schwe¬
stern es verbergen wollten. Als der Bruder sie anre¬
dete, erkannte sie sogleich seine Stimme, weinte, be¬
jammerte ihren Zustand, wollte aber niemand anklagen,
und wünschte nur, es möchte ihr fortan etwas besser
gehen. Sie war allerdings schwachsinnig und abge¬
stumpft, wer weiß ob nicht zumeist in Folge der langen
so schrecklich hingebrachten Leidensjahre, aber durchaus
nicht rasend, wodurch allein solche Einkerkerung und
Entblößung noch wäre scheinbar zu begründen gewesen;
ihre Freundlichkeit und Sanftmuth, im Gegentheil, blie¬
ben sich durch alle Folgezeit unverändert gleich, und

ſehen. Nachdem aber die Franzoſen jene Laͤnder als
Sieger beſetzt hatten, nahm er die Gelegenheit wahr,
und eines Tages, von franzoͤſiſchen Beamten und Gen¬
darmen begleitet, forderte er unvermuthet im Namen
der Obrigkeit augenblicklichen Einlaß, der nun nicht zu
verweigern war; die Nonnen fanden keine Friſt zu
irgend einer Vorbereitung, man draͤngte ſie, und folgte
ihnen auf dem Fuße, und ſo mußten ſie ungemildert
den jammervollſten Anblick offenbaren. Auf bloßer Erde
ſaß die Unſelige ohne alle Bekleidung; kein Gewand,
kein Stroh, weder Tiſch noch Stuhl, nur die nothduͤrf¬
tigſten Gefaͤße! Man brachte ihr zu eſſen, die Nonnen
boten ihr zwar Loͤffel und Gabel dringend an, ſie aber
achtete nicht darauf, ſondern nahm die Speiſen eilig
mit den Fingern, ſchon laͤngſt jener Werkzeuge entwoͤhnt,
wie ſich jetzt deutlich ergab, ſo gern die harten Schwe¬
ſtern es verbergen wollten. Als der Bruder ſie anre¬
dete, erkannte ſie ſogleich ſeine Stimme, weinte, be¬
jammerte ihren Zuſtand, wollte aber niemand anklagen,
und wuͤnſchte nur, es moͤchte ihr fortan etwas beſſer
gehen. Sie war allerdings ſchwachſinnig und abge¬
ſtumpft, wer weiß ob nicht zumeiſt in Folge der langen
ſo ſchrecklich hingebrachten Leidensjahre, aber durchaus
nicht raſend, wodurch allein ſolche Einkerkerung und
Entbloͤßung noch waͤre ſcheinbar zu begruͤnden geweſen;
ihre Freundlichkeit und Sanftmuth, im Gegentheil, blie¬
ben ſich durch alle Folgezeit unveraͤndert gleich, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0037" n="23"/>
&#x017F;ehen. Nachdem aber die Franzo&#x017F;en jene La&#x0364;nder als<lb/>
Sieger be&#x017F;etzt hatten, nahm er die Gelegenheit wahr,<lb/>
und eines Tages, von franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Beamten und Gen¬<lb/>
darmen begleitet, forderte er unvermuthet im Namen<lb/>
der Obrigkeit augenblicklichen Einlaß, der nun nicht zu<lb/>
verweigern war; die Nonnen fanden keine Fri&#x017F;t zu<lb/>
irgend einer Vorbereitung, man dra&#x0364;ngte &#x017F;ie, und folgte<lb/>
ihnen auf dem Fuße, und &#x017F;o mußten &#x017F;ie ungemildert<lb/>
den jammervoll&#x017F;ten Anblick offenbaren. Auf bloßer Erde<lb/>
&#x017F;aß die Un&#x017F;elige ohne alle Bekleidung; kein Gewand,<lb/>
kein Stroh, weder Ti&#x017F;ch noch Stuhl, nur die nothdu&#x0364;rf¬<lb/>
tig&#x017F;ten Gefa&#x0364;ße! Man brachte ihr zu e&#x017F;&#x017F;en, die Nonnen<lb/>
boten ihr zwar Lo&#x0364;ffel und Gabel dringend an, &#x017F;ie aber<lb/>
achtete nicht darauf, &#x017F;ondern nahm die Spei&#x017F;en eilig<lb/>
mit den Fingern, &#x017F;chon la&#x0364;ng&#x017F;t jener Werkzeuge entwo&#x0364;hnt,<lb/>
wie &#x017F;ich jetzt deutlich ergab, &#x017F;o gern die harten Schwe¬<lb/>
&#x017F;tern es verbergen wollten. Als der Bruder &#x017F;ie anre¬<lb/>
dete, erkannte &#x017F;ie &#x017F;ogleich &#x017F;eine Stimme, weinte, be¬<lb/>
jammerte ihren Zu&#x017F;tand, wollte aber niemand anklagen,<lb/>
und wu&#x0364;n&#x017F;chte nur, es mo&#x0364;chte ihr fortan etwas be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
gehen. Sie war allerdings &#x017F;chwach&#x017F;innig und abge¬<lb/>
&#x017F;tumpft, wer weiß ob nicht zumei&#x017F;t in Folge der langen<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chrecklich hingebrachten Leidensjahre, aber durchaus<lb/>
nicht ra&#x017F;end, wodurch allein &#x017F;olche Einkerkerung und<lb/>
Entblo&#x0364;ßung noch wa&#x0364;re &#x017F;cheinbar zu begru&#x0364;nden gewe&#x017F;en;<lb/>
ihre Freundlichkeit und Sanftmuth, im Gegentheil, blie¬<lb/>
ben &#x017F;ich durch alle Folgezeit unvera&#x0364;ndert gleich, und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0037] ſehen. Nachdem aber die Franzoſen jene Laͤnder als Sieger beſetzt hatten, nahm er die Gelegenheit wahr, und eines Tages, von franzoͤſiſchen Beamten und Gen¬ darmen begleitet, forderte er unvermuthet im Namen der Obrigkeit augenblicklichen Einlaß, der nun nicht zu verweigern war; die Nonnen fanden keine Friſt zu irgend einer Vorbereitung, man draͤngte ſie, und folgte ihnen auf dem Fuße, und ſo mußten ſie ungemildert den jammervollſten Anblick offenbaren. Auf bloßer Erde ſaß die Unſelige ohne alle Bekleidung; kein Gewand, kein Stroh, weder Tiſch noch Stuhl, nur die nothduͤrf¬ tigſten Gefaͤße! Man brachte ihr zu eſſen, die Nonnen boten ihr zwar Loͤffel und Gabel dringend an, ſie aber achtete nicht darauf, ſondern nahm die Speiſen eilig mit den Fingern, ſchon laͤngſt jener Werkzeuge entwoͤhnt, wie ſich jetzt deutlich ergab, ſo gern die harten Schwe¬ ſtern es verbergen wollten. Als der Bruder ſie anre¬ dete, erkannte ſie ſogleich ſeine Stimme, weinte, be¬ jammerte ihren Zuſtand, wollte aber niemand anklagen, und wuͤnſchte nur, es moͤchte ihr fortan etwas beſſer gehen. Sie war allerdings ſchwachſinnig und abge¬ ſtumpft, wer weiß ob nicht zumeiſt in Folge der langen ſo ſchrecklich hingebrachten Leidensjahre, aber durchaus nicht raſend, wodurch allein ſolche Einkerkerung und Entbloͤßung noch waͤre ſcheinbar zu begruͤnden geweſen; ihre Freundlichkeit und Sanftmuth, im Gegentheil, blie¬ ben ſich durch alle Folgezeit unveraͤndert gleich, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/37
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/37>, abgerufen am 29.04.2024.