Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

muß also doch etwas in der Sache sein, was uns beide
so benimmt und beängstigt; das gute Tübingen will ich
nicht grade beschuldigen, aber desto mehr die grelle
Versetzung, die wir zu leichtsinnig gewagt, den unge¬
heuren Abstand des Lebens hier von unsrem in Berlin;
wir dachten den so leicht zu ertragen, und ich sehe schon,
wir beide können es nicht! -- Für mich ist das
Schlimmste, daß alle die Kämpfe, denen ich entgangen
zu sein glaubte, sich hier gerade am heftigsten erneuen.
Von allen Seiten bestürmen mich Zweifel und Lockungen!
Was ich eigentlich will, was ich im Tiefsten des Her¬
zens will, das ist mir klar und gewiß; aber davon ist
nicht die Rede! Die Rede ist davon, daß ich eine Ge¬
stalt finde, in der mein Leben sich das Ziel jenes inner¬
sten Wollens aneignen könne, und da sind so viele
Wege, da begegnen mir auf jedem günstige nnd widrige
Zeichen. Es ist kein Irrthum, daß ich Arzt werden
will, gewiß nicht; dieser Beruf ist mir lieb, und ich
kann darin glücklich sein. Aber es liegt in den Um¬
ständen, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern
Ort als Hamburg wählen kann, und so lieb mir der
Ort an und für sich ist, so wenig darf ich ihn jetzt für
mich wünschen, -- und nun gar der Gedanke, mich für
immer in einer Stadt niederzulassen, die französischer
Herrschaft unterworfen ist, während doch vielleicht --
vielleicht! -- noch einige Strecken des Vaterlandes sich
als freie Deutsche erhalten! Soll man überhaupt in

muß alſo doch etwas in der Sache ſein, was uns beide
ſo benimmt und beaͤngſtigt; das gute Tuͤbingen will ich
nicht grade beſchuldigen, aber deſto mehr die grelle
Verſetzung, die wir zu leichtſinnig gewagt, den unge¬
heuren Abſtand des Lebens hier von unſrem in Berlin;
wir dachten den ſo leicht zu ertragen, und ich ſehe ſchon,
wir beide koͤnnen es nicht! — Fuͤr mich iſt das
Schlimmſte, daß alle die Kaͤmpfe, denen ich entgangen
zu ſein glaubte, ſich hier gerade am heftigſten erneuen.
Von allen Seiten beſtuͤrmen mich Zweifel und Lockungen!
Was ich eigentlich will, was ich im Tiefſten des Her¬
zens will, das iſt mir klar und gewiß; aber davon iſt
nicht die Rede! Die Rede iſt davon, daß ich eine Ge¬
ſtalt finde, in der mein Leben ſich das Ziel jenes inner¬
ſten Wollens aneignen koͤnne, und da ſind ſo viele
Wege, da begegnen mir auf jedem guͤnſtige nnd widrige
Zeichen. Es iſt kein Irrthum, daß ich Arzt werden
will, gewiß nicht; dieſer Beruf iſt mir lieb, und ich
kann darin gluͤcklich ſein. Aber es liegt in den Um¬
ſtaͤnden, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern
Ort als Hamburg waͤhlen kann, und ſo lieb mir der
Ort an und fuͤr ſich iſt, ſo wenig darf ich ihn jetzt fuͤr
mich wuͤnſchen, — und nun gar der Gedanke, mich fuͤr
immer in einer Stadt niederzulaſſen, die franzoͤſiſcher
Herrſchaft unterworfen iſt, waͤhrend doch vielleicht —
vielleicht! — noch einige Strecken des Vaterlandes ſich
als freie Deutſche erhalten! Soll man uͤberhaupt in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0100" n="88"/>
muß al&#x017F;o doch etwas in der Sache &#x017F;ein, was uns beide<lb/>
&#x017F;o benimmt und bea&#x0364;ng&#x017F;tigt; das gute Tu&#x0364;bingen will ich<lb/>
nicht grade be&#x017F;chuldigen, aber de&#x017F;to mehr die grelle<lb/>
Ver&#x017F;etzung, die wir zu leicht&#x017F;innig gewagt, den unge¬<lb/>
heuren Ab&#x017F;tand des Lebens hier von un&#x017F;rem in Berlin;<lb/>
wir dachten den &#x017F;o leicht zu ertragen, und ich &#x017F;ehe &#x017F;chon,<lb/>
wir beide ko&#x0364;nnen es nicht! &#x2014; Fu&#x0364;r mich i&#x017F;t das<lb/>
Schlimm&#x017F;te, daß alle die Ka&#x0364;mpfe, denen ich entgangen<lb/>
zu &#x017F;ein glaubte, &#x017F;ich hier gerade am heftig&#x017F;ten erneuen.<lb/>
Von allen Seiten be&#x017F;tu&#x0364;rmen mich Zweifel und Lockungen!<lb/>
Was ich eigentlich will, was ich im Tief&#x017F;ten des Her¬<lb/>
zens will, das i&#x017F;t mir klar und gewiß; aber davon i&#x017F;t<lb/>
nicht die Rede! Die Rede i&#x017F;t davon, daß ich eine Ge¬<lb/>
&#x017F;talt finde, in der mein Leben &#x017F;ich das Ziel jenes inner¬<lb/>
&#x017F;ten Wollens aneignen ko&#x0364;nne, und da &#x017F;ind &#x017F;o viele<lb/>
Wege, da begegnen mir auf jedem gu&#x0364;n&#x017F;tige nnd widrige<lb/>
Zeichen. Es i&#x017F;t kein Irrthum, daß ich Arzt werden<lb/>
will, gewiß nicht; die&#x017F;er Beruf i&#x017F;t mir lieb, und ich<lb/>
kann darin glu&#x0364;cklich &#x017F;ein. Aber es liegt in den Um¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern<lb/>
Ort als Hamburg wa&#x0364;hlen kann, und &#x017F;o lieb mir der<lb/>
Ort an und fu&#x0364;r &#x017F;ich i&#x017F;t, &#x017F;o wenig darf ich ihn jetzt fu&#x0364;r<lb/>
mich wu&#x0364;n&#x017F;chen, &#x2014; und nun gar der Gedanke, mich fu&#x0364;r<lb/>
immer in einer Stadt niederzula&#x017F;&#x017F;en, die franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;cher<lb/>
Herr&#x017F;chaft unterworfen i&#x017F;t, wa&#x0364;hrend doch vielleicht &#x2014;<lb/>
vielleicht! &#x2014; noch einige Strecken des Vaterlandes &#x017F;ich<lb/>
als freie Deut&#x017F;che erhalten! Soll man u&#x0364;berhaupt in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[88/0100] muß alſo doch etwas in der Sache ſein, was uns beide ſo benimmt und beaͤngſtigt; das gute Tuͤbingen will ich nicht grade beſchuldigen, aber deſto mehr die grelle Verſetzung, die wir zu leichtſinnig gewagt, den unge¬ heuren Abſtand des Lebens hier von unſrem in Berlin; wir dachten den ſo leicht zu ertragen, und ich ſehe ſchon, wir beide koͤnnen es nicht! — Fuͤr mich iſt das Schlimmſte, daß alle die Kaͤmpfe, denen ich entgangen zu ſein glaubte, ſich hier gerade am heftigſten erneuen. Von allen Seiten beſtuͤrmen mich Zweifel und Lockungen! Was ich eigentlich will, was ich im Tiefſten des Her¬ zens will, das iſt mir klar und gewiß; aber davon iſt nicht die Rede! Die Rede iſt davon, daß ich eine Ge¬ ſtalt finde, in der mein Leben ſich das Ziel jenes inner¬ ſten Wollens aneignen koͤnne, und da ſind ſo viele Wege, da begegnen mir auf jedem guͤnſtige nnd widrige Zeichen. Es iſt kein Irrthum, daß ich Arzt werden will, gewiß nicht; dieſer Beruf iſt mir lieb, und ich kann darin gluͤcklich ſein. Aber es liegt in den Um¬ ſtaͤnden, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern Ort als Hamburg waͤhlen kann, und ſo lieb mir der Ort an und fuͤr ſich iſt, ſo wenig darf ich ihn jetzt fuͤr mich wuͤnſchen, — und nun gar der Gedanke, mich fuͤr immer in einer Stadt niederzulaſſen, die franzoͤſiſcher Herrſchaft unterworfen iſt, waͤhrend doch vielleicht — vielleicht! — noch einige Strecken des Vaterlandes ſich als freie Deutſche erhalten! Soll man uͤberhaupt in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/100
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/100>, abgerufen am 30.04.2024.