Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

geeignet, und weiß dem geringen und doch wunderlichen
Instrument die zartesten und rührendsten Töne zu ent¬
locken. Nun denkt euch noch die einfachste, ganz ver¬
nachlässigte Kleidung, völlige Gleichgültigkeit gegen die
Dinge, mit denen man sich berührt, vorgebeugte Hal¬
tung, ungleichen, ungraden Gang, eine stete Neigung
sich anzulehnen, oder niederzulegen, wie er denn lieber
auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem sitzt, und
bei allem diesen einen doch schlanken, wohlgewachsenen,
ganz hübschen Jungen, -- so habt ihr ein vollständiges
Bild meines Kerner's. --

Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reut¬
lingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbücher
und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag
war nicht ganz schlecht, die Landstraße noch gut, unge¬
achtet des vielen gefallenen Regens, und der Posthal¬
ter gab uns sehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich
ganz heiter, und als wir nur eben zum Thor hinaus
im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigun¬
gen ausbrechen. Die schwarzblauen Berge stachen scharf
gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel
durchbrachen mit ihrem dunklen Ernst überall die dünnen
Wolkenwogen, welche um sie her spielten. Nachdem
wir das Neckarthal verlassen, eröffneten sich neue schönere
Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß
eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm
trägt, deren Grafen einst mit denen von Tübingen

geeignet, und weiß dem geringen und doch wunderlichen
Inſtrument die zarteſten und ruͤhrendſten Toͤne zu ent¬
locken. Nun denkt euch noch die einfachſte, ganz ver¬
nachlaͤſſigte Kleidung, voͤllige Gleichguͤltigkeit gegen die
Dinge, mit denen man ſich beruͤhrt, vorgebeugte Hal¬
tung, ungleichen, ungraden Gang, eine ſtete Neigung
ſich anzulehnen, oder niederzulegen, wie er denn lieber
auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem ſitzt, und
bei allem dieſen einen doch ſchlanken, wohlgewachſenen,
ganz huͤbſchen Jungen, — ſo habt ihr ein vollſtaͤndiges
Bild meines Kerner's. —

Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reut¬
lingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbuͤcher
und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag
war nicht ganz ſchlecht, die Landſtraße noch gut, unge¬
achtet des vielen gefallenen Regens, und der Poſthal¬
ter gab uns ſehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich
ganz heiter, und als wir nur eben zum Thor hinaus
im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigun¬
gen ausbrechen. Die ſchwarzblauen Berge ſtachen ſcharf
gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel
durchbrachen mit ihrem dunklen Ernſt uͤberall die duͤnnen
Wolkenwogen, welche um ſie her ſpielten. Nachdem
wir das Neckarthal verlaſſen, eroͤffneten ſich neue ſchoͤnere
Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß
eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm
traͤgt, deren Grafen einſt mit denen von Tuͤbingen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0113" n="101"/>
geeignet, und weiß dem geringen und doch wunderlichen<lb/>
In&#x017F;trument die zarte&#x017F;ten und ru&#x0364;hrend&#x017F;ten To&#x0364;ne zu ent¬<lb/>
locken. Nun denkt euch noch die einfach&#x017F;te, ganz ver¬<lb/>
nachla&#x0364;&#x017F;&#x017F;igte Kleidung, vo&#x0364;llige Gleichgu&#x0364;ltigkeit gegen die<lb/>
Dinge, mit denen man &#x017F;ich beru&#x0364;hrt, vorgebeugte Hal¬<lb/>
tung, ungleichen, ungraden Gang, eine &#x017F;tete Neigung<lb/>
&#x017F;ich anzulehnen, oder niederzulegen, wie er denn lieber<lb/>
auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem &#x017F;itzt, und<lb/>
bei allem die&#x017F;en einen doch &#x017F;chlanken, wohlgewach&#x017F;enen,<lb/>
ganz hu&#x0364;b&#x017F;chen Jungen, &#x2014; &#x017F;o habt ihr ein voll&#x017F;ta&#x0364;ndiges<lb/>
Bild meines Kerner's. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reut¬<lb/>
lingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbu&#x0364;cher<lb/>
und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag<lb/>
war nicht ganz &#x017F;chlecht, die Land&#x017F;traße noch gut, unge¬<lb/>
achtet des vielen gefallenen Regens, und der Po&#x017F;thal¬<lb/>
ter gab uns &#x017F;ehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich<lb/>
ganz heiter, und als wir nur eben zum Thor hinaus<lb/>
im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigun¬<lb/>
gen ausbrechen. Die &#x017F;chwarzblauen Berge &#x017F;tachen &#x017F;charf<lb/>
gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel<lb/>
durchbrachen mit ihrem dunklen Ern&#x017F;t u&#x0364;berall die du&#x0364;nnen<lb/>
Wolkenwogen, welche um &#x017F;ie her &#x017F;pielten. Nachdem<lb/>
wir das Neckarthal verla&#x017F;&#x017F;en, ero&#x0364;ffneten &#x017F;ich neue &#x017F;cho&#x0364;nere<lb/>
Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß<lb/>
eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm<lb/>
tra&#x0364;gt, deren Grafen ein&#x017F;t mit denen von Tu&#x0364;bingen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0113] geeignet, und weiß dem geringen und doch wunderlichen Inſtrument die zarteſten und ruͤhrendſten Toͤne zu ent¬ locken. Nun denkt euch noch die einfachſte, ganz ver¬ nachlaͤſſigte Kleidung, voͤllige Gleichguͤltigkeit gegen die Dinge, mit denen man ſich beruͤhrt, vorgebeugte Hal¬ tung, ungleichen, ungraden Gang, eine ſtete Neigung ſich anzulehnen, oder niederzulegen, wie er denn lieber auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem ſitzt, und bei allem dieſen einen doch ſchlanken, wohlgewachſenen, ganz huͤbſchen Jungen, — ſo habt ihr ein vollſtaͤndiges Bild meines Kerner's. — Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reut¬ lingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbuͤcher und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag war nicht ganz ſchlecht, die Landſtraße noch gut, unge¬ achtet des vielen gefallenen Regens, und der Poſthal¬ ter gab uns ſehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich ganz heiter, und als wir nur eben zum Thor hinaus im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigun¬ gen ausbrechen. Die ſchwarzblauen Berge ſtachen ſcharf gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel durchbrachen mit ihrem dunklen Ernſt uͤberall die duͤnnen Wolkenwogen, welche um ſie her ſpielten. Nachdem wir das Neckarthal verlaſſen, eroͤffneten ſich neue ſchoͤnere Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm traͤgt, deren Grafen einſt mit denen von Tuͤbingen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/113
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/113>, abgerufen am 05.05.2024.