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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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Augen lassen. Ich habe nie aufgehört auf dich zu rechnen.
-- Wenn ich mich geäußert habe, du verstehst mich nicht; so
meint' ich, du könnest wahrscheinlich nicht fassen, daß ich treu
bin, und untreu sein muß; -- daß ich untreu bin, und
treu sein muß: und daß, wenn du auch das begriffst, du doch
nicht den daraus entspringenden Handlungen in ihren Modi-
sikationen, von meiner großwelligen! und kleinwelligen Seele
getragen, immer leicht folgen kannst; daher sagt' ich: mißbil-
lige und beurtheile mich nicht, wenn ich dir auch verändert
scheine: sein werd' ich es nur als blasse Hülle zwischen
Brettern.

Heute ist Donnerstag, ich reise Mittwoch; -- das ganze
Herz im tiefsten Grunde, voll Liebe für alles was ich liebte:
was beschlossen ist, ist nicht wieder anzusetzen, wie ein abge-
hauener Kopf -- mein Schmerz ist daher nicht mehr von Spit-
zen, sondern drückend, und dumpf; und in der Brust ist mir
wie ein gedämpftes Trommeln -- wie ich aber, während S[c]e-
nen und die Nacht im Bette, einsah und beschloß, daß ich
gehen mußte; o! da war ich außer mir! und jeder Schmerz,
und jede Beleidigung, und jede Kränkung, und alle verflosse-
nen Jahre tobten losgelassen in mir. Ich habe etwas Schreck-
liches
erlebt; eben weil es mich nicht umbrachte. Daß man
die Unschuld und ihr Bewußtsein nicht zusammen haben kann!!
Das ist das Unheilige in der Welt -- ich nenne Unschuld,
wenn man das rechte Unglück nicht kennt: diese Bekanntschaft
infamirt: ich lass' es mir nicht ausreden! Man ist kein reines
Geschöpf der Natur mehr, kein Geschwister der stillen Gegen-
stände mehr; wenn man einmal aus Schmerz, Erniedrigung,

I. 14

Augen laſſen. Ich habe nie aufgehört auf dich zu rechnen.
— Wenn ich mich geäußert habe, du verſtehſt mich nicht; ſo
meint’ ich, du könneſt wahrſcheinlich nicht faſſen, daß ich treu
bin, und untreu ſein muß; — daß ich untreu bin, und
treu ſein muß: und daß, wenn du auch das begriffſt, du doch
nicht den daraus entſpringenden Handlungen in ihren Modi-
ſikationen, von meiner großwelligen! und kleinwelligen Seele
getragen, immer leicht folgen kannſt; daher ſagt’ ich: mißbil-
lige und beurtheile mich nicht, wenn ich dir auch verändert
ſcheine: ſein werd’ ich es nur als blaſſe Hülle zwiſchen
Brettern.

Heute iſt Donnerstag, ich reiſe Mittwoch; — das ganze
Herz im tiefſten Grunde, voll Liebe für alles was ich liebte:
was beſchloſſen iſt, iſt nicht wieder anzuſetzen, wie ein abge-
hauener Kopf — mein Schmerz iſt daher nicht mehr von Spit-
zen, ſondern drückend, und dumpf; und in der Bruſt iſt mir
wie ein gedämpftes Trommeln — wie ich aber, während S[c]e-
nen und die Nacht im Bette, einſah und beſchloß, daß ich
gehen mußte; o! da war ich außer mir! und jeder Schmerz,
und jede Beleidigung, und jede Kränkung, und alle verfloſſe-
nen Jahre tobten losgelaſſen in mir. Ich habe etwas Schreck-
liches
erlebt; eben weil es mich nicht umbrachte. Daß man
die Unſchuld und ihr Bewußtſein nicht zuſammen haben kann!!
Das iſt das Unheilige in der Welt — ich nenne Unſchuld,
wenn man das rechte Unglück nicht kennt: dieſe Bekanntſchaft
infamirt: ich laſſ’ es mir nicht ausreden! Man iſt kein reines
Geſchöpf der Natur mehr, kein Geſchwiſter der ſtillen Gegen-
ſtände mehr; wenn man einmal aus Schmerz, Erniedrigung,

I. 14
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[209/0223] Augen laſſen. Ich habe nie aufgehört auf dich zu rechnen. — Wenn ich mich geäußert habe, du verſtehſt mich nicht; ſo meint’ ich, du könneſt wahrſcheinlich nicht faſſen, daß ich treu bin, und untreu ſein muß; — daß ich untreu bin, und treu ſein muß: und daß, wenn du auch das begriffſt, du doch nicht den daraus entſpringenden Handlungen in ihren Modi- ſikationen, von meiner großwelligen! und kleinwelligen Seele getragen, immer leicht folgen kannſt; daher ſagt’ ich: mißbil- lige und beurtheile mich nicht, wenn ich dir auch verändert ſcheine: ſein werd’ ich es nur als blaſſe Hülle zwiſchen Brettern. Heute iſt Donnerstag, ich reiſe Mittwoch; — das ganze Herz im tiefſten Grunde, voll Liebe für alles was ich liebte: was beſchloſſen iſt, iſt nicht wieder anzuſetzen, wie ein abge- hauener Kopf — mein Schmerz iſt daher nicht mehr von Spit- zen, ſondern drückend, und dumpf; und in der Bruſt iſt mir wie ein gedämpftes Trommeln — wie ich aber, während Sce- nen und die Nacht im Bette, einſah und beſchloß, daß ich gehen mußte; o! da war ich außer mir! und jeder Schmerz, und jede Beleidigung, und jede Kränkung, und alle verfloſſe- nen Jahre tobten losgelaſſen in mir. Ich habe etwas Schreck- liches erlebt; eben weil es mich nicht umbrachte. Daß man die Unſchuld und ihr Bewußtſein nicht zuſammen haben kann!! Das iſt das Unheilige in der Welt — ich nenne Unſchuld, wenn man das rechte Unglück nicht kennt: dieſe Bekanntſchaft infamirt: ich laſſ’ es mir nicht ausreden! Man iſt kein reines Geſchöpf der Natur mehr, kein Geſchwiſter der ſtillen Gegen- ſtände mehr; wenn man einmal aus Schmerz, Erniedrigung, I. 14

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/223>, abgerufen am 26.04.2024.