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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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Bezug dem Verhältnisse zum Grunde lag. Eine herrliche
Bildergalerie, durch welche ich unter lebensprühenden Erklä-
rungen geleitet wurde! Die Bilder nämlich allein waren noch
gegenwärtig, der Kreis selber jetzt durch die Zeitverhältnisse
völlig aufgelöst, nachdem schon die einzelnen Menschengeschicke
durch Tod, Entfernung und andre Wandelbarkeit die dichten
Reihen gelockert hatten."

"Aber nicht nur diese reiche Sammlung bedeutender Bild-
nisse wurde mir gezeigt, sondern noch ein andrer Schatz auf-
geschlossen, der das antheilvolle Gemüth ungleich stärker an-
sprach. Rahel gehörte zu den seltenen Wesen, denen die
Natur und das Geschick die Gabe zu lieben nicht versagt
hatten. Was dazu gehörte, was daraus entstehen mußte,
wenn die Weihe der höchsten Empfindung diesen Geist und
diesen Sinn vereinend ergriff, sie emporzuheben, sie zu zer-
schmettern, das konnte ein Dichtungskundiger ahnden; doch
übertrafen die Einblicke, die mir wurden, alles was ich zu
ahnden fähig gewesen war. Die Gluth der Leidenschaft hatte
hier überschwänglich die edelste Nahrung gefunden und auf-
gezehrt; andres Leid und andrer Untergang erschien dagegen
gering und kaum noch mitleidswerth. Die Briefe und Tage-
blätter, welche mir aus einziger Gunst des Vertrauens zum
Lesen gegeben wurden, enthielten eine Lebensfülle, an welche
das, was von Goethe und Rousseau in dieser Art bekannt
ist, nur selten hinanreicht; so mögen die Briefe an Frau von
Houdetot gewesen sein, deren Rousseau selbst als unvergleich-
bar mit allem andern erwähnt, ein solches Feuer der Wirk-
lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Diese Papiere,

Bezug dem Verhältniſſe zum Grunde lag. Eine herrliche
Bildergalerie, durch welche ich unter lebenſprühenden Erklä-
rungen geleitet wurde! Die Bilder nämlich allein waren noch
gegenwärtig, der Kreis ſelber jetzt durch die Zeitverhältniſſe
völlig aufgelöſt, nachdem ſchon die einzelnen Menſchengeſchicke
durch Tod, Entfernung und andre Wandelbarkeit die dichten
Reihen gelockert hatten.“

„Aber nicht nur dieſe reiche Sammlung bedeutender Bild-
niſſe wurde mir gezeigt, ſondern noch ein andrer Schatz auf-
geſchloſſen, der das antheilvolle Gemüth ungleich ſtärker an-
ſprach. Rahel gehörte zu den ſeltenen Weſen, denen die
Natur und das Geſchick die Gabe zu lieben nicht verſagt
hatten. Was dazu gehörte, was daraus entſtehen mußte,
wenn die Weihe der höchſten Empfindung dieſen Geiſt und
dieſen Sinn vereinend ergriff, ſie emporzuheben, ſie zu zer-
ſchmettern, das konnte ein Dichtungskundiger ahnden; doch
übertrafen die Einblicke, die mir wurden, alles was ich zu
ahnden fähig geweſen war. Die Gluth der Leidenſchaft hatte
hier überſchwänglich die edelſte Nahrung gefunden und auf-
gezehrt; andres Leid und andrer Untergang erſchien dagegen
gering und kaum noch mitleidswerth. Die Briefe und Tage-
blätter, welche mir aus einziger Gunſt des Vertrauens zum
Leſen gegeben wurden, enthielten eine Lebensfülle, an welche
das, was von Goethe und Rouſſeau in dieſer Art bekannt
iſt, nur ſelten hinanreicht; ſo mögen die Briefe an Frau von
Houdetot geweſen ſein, deren Rouſſeau ſelbſt als unvergleich-
bar mit allem andern erwähnt, ein ſolches Feuer der Wirk-
lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Dieſe Papiere,

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[20/0034] Bezug dem Verhältniſſe zum Grunde lag. Eine herrliche Bildergalerie, durch welche ich unter lebenſprühenden Erklä- rungen geleitet wurde! Die Bilder nämlich allein waren noch gegenwärtig, der Kreis ſelber jetzt durch die Zeitverhältniſſe völlig aufgelöſt, nachdem ſchon die einzelnen Menſchengeſchicke durch Tod, Entfernung und andre Wandelbarkeit die dichten Reihen gelockert hatten.“ „Aber nicht nur dieſe reiche Sammlung bedeutender Bild- niſſe wurde mir gezeigt, ſondern noch ein andrer Schatz auf- geſchloſſen, der das antheilvolle Gemüth ungleich ſtärker an- ſprach. Rahel gehörte zu den ſeltenen Weſen, denen die Natur und das Geſchick die Gabe zu lieben nicht verſagt hatten. Was dazu gehörte, was daraus entſtehen mußte, wenn die Weihe der höchſten Empfindung dieſen Geiſt und dieſen Sinn vereinend ergriff, ſie emporzuheben, ſie zu zer- ſchmettern, das konnte ein Dichtungskundiger ahnden; doch übertrafen die Einblicke, die mir wurden, alles was ich zu ahnden fähig geweſen war. Die Gluth der Leidenſchaft hatte hier überſchwänglich die edelſte Nahrung gefunden und auf- gezehrt; andres Leid und andrer Untergang erſchien dagegen gering und kaum noch mitleidswerth. Die Briefe und Tage- blätter, welche mir aus einziger Gunſt des Vertrauens zum Leſen gegeben wurden, enthielten eine Lebensfülle, an welche das, was von Goethe und Rouſſeau in dieſer Art bekannt iſt, nur ſelten hinanreicht; ſo mögen die Briefe an Frau von Houdetot geweſen ſein, deren Rouſſeau ſelbſt als unvergleich- bar mit allem andern erwähnt, ein ſolches Feuer der Wirk- lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Dieſe Papiere,

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/34>, abgerufen am 29.04.2024.