Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Zorn erregte. Nicht, daß Sie nicht unendlich seit unserer Be-
kanntschaft gewonnen hätten! Der ganze Horizont Ihrer
Begriffe ist erleuchtet, ein ganzer Wust von alten Meinun-
gen, Urtheilen und Wünschen bei Seite geschafft; ganze Felder
sind mit neuer Saat versorgt; Ihr Geist ist beweglicher und
selbstthätiger geworden. Eine neue Welt haben Sie in's
Auge bekommen; eine lächerliche, in betrüglichem Schein
schwebende, bei Seite rollen lassen. Aber im Zusammenhange
Ihres Wesens haben Sie nicht gewonnen. -- Und wie ist
es möglich, daß man eine Gemüthsehrlichkeit in jemanden
bewundert, ohne auf der Stelle eben so zu werden? Ohne so
zu sein! Kraft der Ausübung kann man bewundern, ohne
sie zu besitzen, Fähigkeit des Geistes, Stärke des Kopfes,
Reichthum des Herzens, seine Empfindlichkeit, sein Vermögen!
Gut. Aber wie kann man ein strenges Bemühn, in alles
dies Zusammenhang zu bringen, einen ehrlichen Umgang im
Innern der Seele, im Gebiete des Gewissens, lieben und prei-
sen, ohne immer und ewig dasselbe, was man bewundert, zu
üben! -- Der Mensch kann nicht recht auseinandersetzen,
was das ist, der Wille. Aber ein jeder sieht, das Aug' in
sich gekehrt, vernimmt, nach seinem Innern horchend, daß es
ein letztes Wollen in ihm giebt, unterschieden von dem vielen
zerspaltenen, ein Wollen, welches mit den besten Überzeugun-
gen zusammenstimmt, und der reinste, also der, uns be-
kannte, beste Willen ist. Dieser, im Zusammenhange mit je-
dem
unsrer Bestreben und all unsern Äußerungen, macht
wahrhaft liebenswürdig, und ist allein liebenswürdig. Wenn
Sie, meine Freundin, also mich lieben, so muß dieser Punkt

I. 31

Zorn erregte. Nicht, daß Sie nicht unendlich ſeit unſerer Be-
kanntſchaft gewonnen hätten! Der ganze Horizont Ihrer
Begriffe iſt erleuchtet, ein ganzer Wuſt von alten Meinun-
gen, Urtheilen und Wünſchen bei Seite geſchafft; ganze Felder
ſind mit neuer Saat verſorgt; Ihr Geiſt iſt beweglicher und
ſelbſtthätiger geworden. Eine neue Welt haben Sie in’s
Auge bekommen; eine lächerliche, in betrüglichem Schein
ſchwebende, bei Seite rollen laſſen. Aber im Zuſammenhange
Ihres Weſens haben Sie nicht gewonnen. — Und wie iſt
es möglich, daß man eine Gemüthsehrlichkeit in jemanden
bewundert, ohne auf der Stelle eben ſo zu werden? Ohne ſo
zu ſein! Kraft der Ausübung kann man bewundern, ohne
ſie zu beſitzen, Fähigkeit des Geiſtes, Stärke des Kopfes,
Reichthum des Herzens, ſeine Empfindlichkeit, ſein Vermögen!
Gut. Aber wie kann man ein ſtrenges Bemühn, in alles
dies Zuſammenhang zu bringen, einen ehrlichen Umgang im
Innern der Seele, im Gebiete des Gewiſſens, lieben und prei-
ſen, ohne immer und ewig daſſelbe, was man bewundert, zu
üben! — Der Menſch kann nicht recht auseinanderſetzen,
was das iſt, der Wille. Aber ein jeder ſieht, das Aug’ in
ſich gekehrt, vernimmt, nach ſeinem Innern horchend, daß es
ein letztes Wollen in ihm giebt, unterſchieden von dem vielen
zerſpaltenen, ein Wollen, welches mit den beſten Überzeugun-
gen zuſammenſtimmt, und der reinſte, alſo der, uns be-
kannte, beſte Willen iſt. Dieſer, im Zuſammenhange mit je-
dem
unſrer Beſtreben und all unſern Äußerungen, macht
wahrhaft liebenswürdig, und iſt allein liebenswürdig. Wenn
Sie, meine Freundin, alſo mich lieben, ſo muß dieſer Punkt

I. 31
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0495" n="481"/>
Zorn erregte. Nicht, daß Sie nicht unendlich &#x017F;eit un&#x017F;erer Be-<lb/>
kannt&#x017F;chaft gewonnen hätten! Der ganze Horizont Ihrer<lb/>
Begriffe i&#x017F;t erleuchtet, ein ganzer Wu&#x017F;t von alten Meinun-<lb/>
gen, Urtheilen und Wün&#x017F;chen bei Seite ge&#x017F;chafft; ganze Felder<lb/>
&#x017F;ind mit neuer Saat ver&#x017F;orgt; Ihr Gei&#x017F;t i&#x017F;t beweglicher und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tthätiger geworden. Eine neue Welt haben Sie in&#x2019;s<lb/>
Auge bekommen; eine lächerliche, in betrüglichem Schein<lb/>
&#x017F;chwebende, bei Seite rollen la&#x017F;&#x017F;en. Aber im Zu&#x017F;ammenhange<lb/>
Ihres We&#x017F;ens haben Sie nicht gewonnen. &#x2014; <hi rendition="#g">Und</hi> wie i&#x017F;t<lb/>
es <hi rendition="#g">möglich</hi>, daß man eine Gemüths<hi rendition="#g">ehrlich</hi>keit in jemanden<lb/>
bewundert, ohne auf der Stelle eben &#x017F;o zu werden? Ohne &#x017F;o<lb/>
zu &#x017F;ein! Kraft der Ausübung kann man bewundern, ohne<lb/>
&#x017F;ie zu be&#x017F;itzen, Fähigkeit des Gei&#x017F;tes, Stärke des Kopfes,<lb/>
Reichthum des Herzens, &#x017F;eine Empfindlichkeit, &#x017F;ein Vermögen!<lb/>
Gut. Aber wie kann man ein &#x017F;trenges Bemühn, in alles<lb/>
dies Zu&#x017F;ammenhang zu bringen, einen ehrlichen Umgang im<lb/>
Innern der Seele, im Gebiete des Gewi&#x017F;&#x017F;ens, lieben und prei-<lb/>
&#x017F;en, ohne immer und ewig da&#x017F;&#x017F;elbe, was man bewundert, zu<lb/>
üben! &#x2014; Der Men&#x017F;ch kann nicht recht auseinander&#x017F;etzen,<lb/>
was das i&#x017F;t, der Wille. Aber ein jeder &#x017F;ieht, das Aug&#x2019; in<lb/>
&#x017F;ich gekehrt, vernimmt, nach &#x017F;einem Innern horchend, daß es<lb/>
ein letztes Wollen in ihm giebt, unter&#x017F;chieden von dem vielen<lb/>
zer&#x017F;paltenen, ein Wollen, welches mit den be&#x017F;ten Überzeugun-<lb/>
gen zu&#x017F;ammen&#x017F;timmt, und der <hi rendition="#g">rein&#x017F;te</hi>, al&#x017F;o der, uns be-<lb/>
kannte, be&#x017F;te Willen i&#x017F;t. Die&#x017F;er, im Zu&#x017F;ammenhange mit <hi rendition="#g">je-<lb/>
dem</hi> un&#x017F;rer Be&#x017F;treben und <hi rendition="#g">all</hi> un&#x017F;ern Äußerungen, macht<lb/>
wahrhaft liebenswürdig, und i&#x017F;t allein liebenswürdig. Wenn<lb/>
Sie, meine Freundin, al&#x017F;o mich lieben, &#x017F;o muß <hi rendition="#g">die&#x017F;er</hi> Punkt<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi> 31</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[481/0495] Zorn erregte. Nicht, daß Sie nicht unendlich ſeit unſerer Be- kanntſchaft gewonnen hätten! Der ganze Horizont Ihrer Begriffe iſt erleuchtet, ein ganzer Wuſt von alten Meinun- gen, Urtheilen und Wünſchen bei Seite geſchafft; ganze Felder ſind mit neuer Saat verſorgt; Ihr Geiſt iſt beweglicher und ſelbſtthätiger geworden. Eine neue Welt haben Sie in’s Auge bekommen; eine lächerliche, in betrüglichem Schein ſchwebende, bei Seite rollen laſſen. Aber im Zuſammenhange Ihres Weſens haben Sie nicht gewonnen. — Und wie iſt es möglich, daß man eine Gemüthsehrlichkeit in jemanden bewundert, ohne auf der Stelle eben ſo zu werden? Ohne ſo zu ſein! Kraft der Ausübung kann man bewundern, ohne ſie zu beſitzen, Fähigkeit des Geiſtes, Stärke des Kopfes, Reichthum des Herzens, ſeine Empfindlichkeit, ſein Vermögen! Gut. Aber wie kann man ein ſtrenges Bemühn, in alles dies Zuſammenhang zu bringen, einen ehrlichen Umgang im Innern der Seele, im Gebiete des Gewiſſens, lieben und prei- ſen, ohne immer und ewig daſſelbe, was man bewundert, zu üben! — Der Menſch kann nicht recht auseinanderſetzen, was das iſt, der Wille. Aber ein jeder ſieht, das Aug’ in ſich gekehrt, vernimmt, nach ſeinem Innern horchend, daß es ein letztes Wollen in ihm giebt, unterſchieden von dem vielen zerſpaltenen, ein Wollen, welches mit den beſten Überzeugun- gen zuſammenſtimmt, und der reinſte, alſo der, uns be- kannte, beſte Willen iſt. Dieſer, im Zuſammenhange mit je- dem unſrer Beſtreben und all unſern Äußerungen, macht wahrhaft liebenswürdig, und iſt allein liebenswürdig. Wenn Sie, meine Freundin, alſo mich lieben, ſo muß dieſer Punkt I. 31

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/495
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/495>, abgerufen am 26.04.2024.