Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

mein Auge erhitzte mich bis zur Unfähigkeit. Schade für den
Brief, den ich schreiben wollte!

(Diktirt.)

Montag, den 10. Oktober. Eben solches Wetter wie
gestern, nur noch leichter Nebel zu überwältigen, erfrischte
Luft und baldige Sonne. Nach 10 Uhr Morgens. In mei-
nem Leben bin ich noch nicht so verliebt in einen Brief ge-
wesen, als in den, welchen ich Ihnen hätte schreiben können,
wenn meine Augen nicht noch tückischer geworden wären: sie
versagen mir alles, Billete und Zeitungen, und haben wirk-
lich etwas Verrücktes an sich, denn im Winde bessern sie sich,
und den sollen sie auch heute wie gestern genießen. Goethe
ist nicht allein des Schreibens wegen zu beneiden, sondern
auch um seine Diktirkunst, welche ich jetzt als solche kennen
lerne: mein Geist wird stätisch vor einer fremden Feder: und
bekömmt, nicht von der Seite, sondern grade vor den Au-
gen Scheuklappen.

Jedoch müssen Sie noch eines von mir wissen: ich bin
unheilbar überzeugt, daß nur die Unart Stettins uns vor
einem gräuelhaften Aufruhr schützte; dem eingefleischten Ab-
scheu vor dieser allein verdanken wir die weisen Maßregeln,
in denen wir athmen. Muth gegen Unvernünftiges hielt ich
von jeher für Tollheit, und endlich geben mir hohe Regierun-
gen Recht: und ich sehe, bald kommt die reife Zeit, wo man
in großen Ehren ein Poltron sein darf. Ernster gemeint, als
ein alterthümlicher Held nur irgend glauben kann. Apropos
vom Fortschreiten! Sie dürfen Victor Hugo's Notre-Dame

mein Auge erhitzte mich bis zur Unfähigkeit. Schade für den
Brief, den ich ſchreiben wollte!

(Diktirt.)

Montag, den 10. Oktober. Eben ſolches Wetter wie
geſtern, nur noch leichter Nebel zu überwältigen, erfriſchte
Luft und baldige Sonne. Nach 10 Uhr Morgens. In mei-
nem Leben bin ich noch nicht ſo verliebt in einen Brief ge-
weſen, als in den, welchen ich Ihnen hätte ſchreiben können,
wenn meine Augen nicht noch tückiſcher geworden wären: ſie
verſagen mir alles, Billete und Zeitungen, und haben wirk-
lich etwas Verrücktes an ſich, denn im Winde beſſern ſie ſich,
und den ſollen ſie auch heute wie geſtern genießen. Goethe
iſt nicht allein des Schreibens wegen zu beneiden, ſondern
auch um ſeine Diktirkunſt, welche ich jetzt als ſolche kennen
lerne: mein Geiſt wird ſtätiſch vor einer fremden Feder: und
bekömmt, nicht von der Seite, ſondern grade vor den Au-
gen Scheuklappen.

Jedoch müſſen Sie noch eines von mir wiſſen: ich bin
unheilbar überzeugt, daß nur die Unart Stettins uns vor
einem gräuelhaften Aufruhr ſchützte; dem eingefleiſchten Ab-
ſcheu vor dieſer allein verdanken wir die weiſen Maßregeln,
in denen wir athmen. Muth gegen Unvernünftiges hielt ich
von jeher für Tollheit, und endlich geben mir hohe Regierun-
gen Recht: und ich ſehe, bald kommt die reife Zeit, wo man
in großen Ehren ein Poltron ſein darf. Ernſter gemeint, als
ein alterthümlicher Held nur irgend glauben kann. Apropos
vom Fortſchreiten! Sie dürfen Victor Hugo’s Notre-Dame

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0541" n="533"/>
mein Auge erhitzte mich bis zur Unfähigkeit. Schade für den<lb/>
Brief, den ich &#x017F;chreiben wollte!</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">(Diktirt.)</hi> </p><lb/>
          <p>Montag, den 10. Oktober. Eben &#x017F;olches Wetter wie<lb/>
ge&#x017F;tern, nur noch leichter Nebel zu überwältigen, erfri&#x017F;chte<lb/>
Luft und baldige Sonne. Nach 10 Uhr Morgens. In mei-<lb/>
nem Leben bin ich noch nicht &#x017F;o verliebt in einen Brief ge-<lb/>
we&#x017F;en, als in den, welchen ich Ihnen hätte &#x017F;chreiben können,<lb/>
wenn meine Augen nicht noch tücki&#x017F;cher geworden wären: &#x017F;ie<lb/>
ver&#x017F;agen mir alles, Billete und Zeitungen, und haben wirk-<lb/>
lich etwas Verrücktes an &#x017F;ich, denn im Winde be&#x017F;&#x017F;ern &#x017F;ie &#x017F;ich,<lb/>
und den &#x017F;ollen &#x017F;ie auch heute wie ge&#x017F;tern genießen. Goethe<lb/>
i&#x017F;t nicht allein des Schreibens wegen zu beneiden, &#x017F;ondern<lb/>
auch um &#x017F;eine Diktirkun&#x017F;t, welche ich jetzt als &#x017F;olche kennen<lb/>
lerne: mein Gei&#x017F;t wird &#x017F;täti&#x017F;ch vor einer fremden Feder: und<lb/>
bekömmt, nicht von der Seite, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">grade vor</hi> den Au-<lb/>
gen Scheuklappen.</p><lb/>
          <p>Jedoch mü&#x017F;&#x017F;en Sie noch eines von mir wi&#x017F;&#x017F;en: ich bin<lb/>
unheilbar überzeugt, daß nur die Unart Stettins uns vor<lb/>
einem gräuelhaften Aufruhr &#x017F;chützte; dem eingeflei&#x017F;chten Ab-<lb/>
&#x017F;cheu vor die&#x017F;er allein verdanken wir die wei&#x017F;en Maßregeln,<lb/>
in denen wir athmen. Muth gegen Unvernünftiges hielt ich<lb/>
von jeher für Tollheit, und endlich geben mir hohe Regierun-<lb/>
gen Recht: und ich &#x017F;ehe, bald kommt die reife Zeit, wo man<lb/>
in großen Ehren ein Poltron &#x017F;ein darf. Ern&#x017F;ter gemeint, als<lb/>
ein alterthümlicher Held nur irgend glauben kann. Apropos<lb/>
vom Fort&#x017F;chreiten! Sie dürfen Victor Hugo&#x2019;s <hi rendition="#aq">Notre-Dame</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[533/0541] mein Auge erhitzte mich bis zur Unfähigkeit. Schade für den Brief, den ich ſchreiben wollte! (Diktirt.) Montag, den 10. Oktober. Eben ſolches Wetter wie geſtern, nur noch leichter Nebel zu überwältigen, erfriſchte Luft und baldige Sonne. Nach 10 Uhr Morgens. In mei- nem Leben bin ich noch nicht ſo verliebt in einen Brief ge- weſen, als in den, welchen ich Ihnen hätte ſchreiben können, wenn meine Augen nicht noch tückiſcher geworden wären: ſie verſagen mir alles, Billete und Zeitungen, und haben wirk- lich etwas Verrücktes an ſich, denn im Winde beſſern ſie ſich, und den ſollen ſie auch heute wie geſtern genießen. Goethe iſt nicht allein des Schreibens wegen zu beneiden, ſondern auch um ſeine Diktirkunſt, welche ich jetzt als ſolche kennen lerne: mein Geiſt wird ſtätiſch vor einer fremden Feder: und bekömmt, nicht von der Seite, ſondern grade vor den Au- gen Scheuklappen. Jedoch müſſen Sie noch eines von mir wiſſen: ich bin unheilbar überzeugt, daß nur die Unart Stettins uns vor einem gräuelhaften Aufruhr ſchützte; dem eingefleiſchten Ab- ſcheu vor dieſer allein verdanken wir die weiſen Maßregeln, in denen wir athmen. Muth gegen Unvernünftiges hielt ich von jeher für Tollheit, und endlich geben mir hohe Regierun- gen Recht: und ich ſehe, bald kommt die reife Zeit, wo man in großen Ehren ein Poltron ſein darf. Ernſter gemeint, als ein alterthümlicher Held nur irgend glauben kann. Apropos vom Fortſchreiten! Sie dürfen Victor Hugo’s Notre-Dame

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/541
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/541>, abgerufen am 28.04.2024.