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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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lichen Verbesserung fähig sind; auch sprungweise zu viel von
der Gesammtbildung der Erde bekommen haben, und die Pe-
riode ihrer Kunst -- die ich jedem Volke von der Natur zu-
gestehe -- überschritten haben. Wie ich denn glaube, daß sie
überhaupt für jetzt überschritten ist. Die Untersuchung, welche
diese Behauptung voraussetzt, kann jeder Einzelne in seinem
eignen Leben anstellen: ob spätere Verhältnisse, kombinirteres
Wissen, später sich entwicklende Interessen, ausgedehuteres
Ordnunghalten, in all diesen Dingen tieferes, vielfältigeres
Studiren, der Kampf mit der Welt in reifern Jahren, eine
traurigere und auch höhere Klarheit, ihn nicht von Kunst-
erzeugnissen und Kunstvorsätzen abhalten!

Die Welt bewegt sich aber immer; erzeugt immer neue
Menschen und frische Verhältnisse; nichts ursprünglich Mensch-
liches wird vertilgt werden; so wenig wir Wild des Waldes
werden, oder als ein Mann in Amt zur Welt kommen wird;
und so braucht uns weder um unsre Liebe zur Kunst oder
deren Werke bange zu sein. Getrieben nur können sie nicht
werden: nicht einmal vom besten Willen; von Eitelkeit und
Liebhaberei an Nationalität gar nicht. Freien Lauf lasse man
ihnen; gute Zustände aller Art bereite man; und das ein je-
der auf seiner Stelle; das ist das herrlichste Beförderungs-
mittel; und die Wahrheitsliebe pflege man zehnfach doppelt
bedacht in sich! Alle Werke der Kunst zeigen sich gleich als
Karikatur ohne sie. Das zeugt, wenn es noch nöthig wäre,
von ihrem hohen Ursprung, und ihrer hohen herrlichen Ver-
wandtschaft: und so wären wir wieder zu dem Anfang, wo
wir sie als höchstes Bedürfniß des Menschen ansahen, als

lichen Verbeſſerung fähig ſind; auch ſprungweiſe zu viel von
der Geſammtbildung der Erde bekommen haben, und die Pe-
riode ihrer Kunſt — die ich jedem Volke von der Natur zu-
geſtehe — überſchritten haben. Wie ich denn glaube, daß ſie
überhaupt für jetzt überſchritten iſt. Die Unterſuchung, welche
dieſe Behauptung vorausſetzt, kann jeder Einzelne in ſeinem
eignen Leben anſtellen: ob ſpätere Verhältniſſe, kombinirteres
Wiſſen, ſpäter ſich entwicklende Intereſſen, ausgedehuteres
Ordnunghalten, in all dieſen Dingen tieferes, vielfältigeres
Studiren, der Kampf mit der Welt in reifern Jahren, eine
traurigere und auch höhere Klarheit, ihn nicht von Kunſt-
erzeugniſſen und Kunſtvorſätzen abhalten!

Die Welt bewegt ſich aber immer; erzeugt immer neue
Menſchen und friſche Verhältniſſe; nichts urſprünglich Menſch-
liches wird vertilgt werden; ſo wenig wir Wild des Waldes
werden, oder als ein Mann in Amt zur Welt kommen wird;
und ſo braucht uns weder um unſre Liebe zur Kunſt oder
deren Werke bange zu ſein. Getrieben nur können ſie nicht
werden: nicht einmal vom beſten Willen; von Eitelkeit und
Liebhaberei an Nationalität gar nicht. Freien Lauf laſſe man
ihnen; gute Zuſtände aller Art bereite man; und das ein je-
der auf ſeiner Stelle; das iſt das herrlichſte Beförderungs-
mittel; und die Wahrheitsliebe pflege man zehnfach doppelt
bedacht in ſich! Alle Werke der Kunſt zeigen ſich gleich als
Karikatur ohne ſie. Das zeugt, wenn es noch nöthig wäre,
von ihrem hohen Urſprung, und ihrer hohen herrlichen Ver-
wandtſchaft: und ſo wären wir wieder zu dem Anfang, wo
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[79/0087] lichen Verbeſſerung fähig ſind; auch ſprungweiſe zu viel von der Geſammtbildung der Erde bekommen haben, und die Pe- riode ihrer Kunſt — die ich jedem Volke von der Natur zu- geſtehe — überſchritten haben. Wie ich denn glaube, daß ſie überhaupt für jetzt überſchritten iſt. Die Unterſuchung, welche dieſe Behauptung vorausſetzt, kann jeder Einzelne in ſeinem eignen Leben anſtellen: ob ſpätere Verhältniſſe, kombinirteres Wiſſen, ſpäter ſich entwicklende Intereſſen, ausgedehuteres Ordnunghalten, in all dieſen Dingen tieferes, vielfältigeres Studiren, der Kampf mit der Welt in reifern Jahren, eine traurigere und auch höhere Klarheit, ihn nicht von Kunſt- erzeugniſſen und Kunſtvorſätzen abhalten! Die Welt bewegt ſich aber immer; erzeugt immer neue Menſchen und friſche Verhältniſſe; nichts urſprünglich Menſch- liches wird vertilgt werden; ſo wenig wir Wild des Waldes werden, oder als ein Mann in Amt zur Welt kommen wird; und ſo braucht uns weder um unſre Liebe zur Kunſt oder deren Werke bange zu ſein. Getrieben nur können ſie nicht werden: nicht einmal vom beſten Willen; von Eitelkeit und Liebhaberei an Nationalität gar nicht. Freien Lauf laſſe man ihnen; gute Zuſtände aller Art bereite man; und das ein je- der auf ſeiner Stelle; das iſt das herrlichſte Beförderungs- mittel; und die Wahrheitsliebe pflege man zehnfach doppelt bedacht in ſich! Alle Werke der Kunſt zeigen ſich gleich als Karikatur ohne ſie. Das zeugt, wenn es noch nöthig wäre, von ihrem hohen Urſprung, und ihrer hohen herrlichen Ver- wandtſchaft: und ſo wären wir wieder zu dem Anfang, wo wir ſie als höchſtes Bedürfniß des Menſchen anſahen, als

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/87>, abgerufen am 29.04.2024.