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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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nur als unmittelbare Erscheinung der Seele, wie wir sie zuerst zu
betrachten haben, hat ihre ganze Bedeutung sogleich als eine geistig durch-
leuchtete. Schlechtweg entsprechende Einheit eines Innern und Aeußern
ist auch das Thier; man kann aber und muß vielmehr ebensowahr und
wahrer sagen, daß das Thier sein Inneres im allgemeinsten formalen
Sinne zwar hat, aber das wahre Innere, das die Natur sucht, außer
ihm, jenseits seiner, über es hinaus im Menschen liegt, daß sein Aeußeres
dieses nur erst gesuchte Innere als ein solches, als ein noch nicht gefundenes
anzeigt, daher ein wildfremdes Aeußeres ist, das ankündigt und nicht
leistet, wogegen das Innere des Menschen das erreichte Innere ist, das
in seinem Aeußeren anzeigt, daß es von sich ausgeht und bei sich an-
kommt, die bei sich, bei ihrem Ich angekommene daher über sich selbst
erhabene Natur ist. Die bisherige Welt hatte ihr Centrum, ihren Schwer-
punkt außer sich, die menschliche hat ihn in sich, in der Schöpfung wandelt
jetzt ihr König, eine satte und erfüllte Schönheit, die Gegenstand und
Zuschauer zugleich ist, die daher dem äußeren Zuschauer sein Selbst
entgegenbringt. Die Natur hat darum nicht aufgehört, weil sie sich selbst
übertroffen hat, sie besteht als Königreich des Herren fort; die Pflanze
schmückt den unorganischen Boden, das Thier belebt beide, der Mensch
"der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden
Gange, den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen" überschaut, genießt,
beherrscht, krönt durch seine Schönheit alle, ist die wahre Staffage der
Natur oder richtiger sie nur die seinige, erkennt aber nicht nur seine
Brüder in Busch und Wald, sondern auch, was wirklich seines Gleichen
ist, kennt er anders, als das Thier seines Gleichen kennt, und umfaßt
er in einem Bunde, welcher die Vielen zu einer Idealperson vereinigt
und darin dem Einzelnen die wahre Persönlichkeit gibt, wodurch das
menschliche Individuum absoluten ästhetischen Werth erhält.

Wir haben nun die Formen, in die sich die menschliche Schönheit
entfaltet, zu verfolgen.


nur als unmittelbare Erſcheinung der Seele, wie wir ſie zuerſt zu
betrachten haben, hat ihre ganze Bedeutung ſogleich als eine geiſtig durch-
leuchtete. Schlechtweg entſprechende Einheit eines Innern und Aeußern
iſt auch das Thier; man kann aber und muß vielmehr ebenſowahr und
wahrer ſagen, daß das Thier ſein Inneres im allgemeinſten formalen
Sinne zwar hat, aber das wahre Innere, das die Natur ſucht, außer
ihm, jenſeits ſeiner, über es hinaus im Menſchen liegt, daß ſein Aeußeres
dieſes nur erſt geſuchte Innere als ein ſolches, als ein noch nicht gefundenes
anzeigt, daher ein wildfremdes Aeußeres iſt, das ankündigt und nicht
leiſtet, wogegen das Innere des Menſchen das erreichte Innere iſt, das
in ſeinem Aeußeren anzeigt, daß es von ſich ausgeht und bei ſich an-
kommt, die bei ſich, bei ihrem Ich angekommene daher über ſich ſelbſt
erhabene Natur iſt. Die bisherige Welt hatte ihr Centrum, ihren Schwer-
punkt außer ſich, die menſchliche hat ihn in ſich, in der Schöpfung wandelt
jetzt ihr König, eine ſatte und erfüllte Schönheit, die Gegenſtand und
Zuſchauer zugleich iſt, die daher dem äußeren Zuſchauer ſein Selbſt
entgegenbringt. Die Natur hat darum nicht aufgehört, weil ſie ſich ſelbſt
übertroffen hat, ſie beſteht als Königreich des Herren fort; die Pflanze
ſchmückt den unorganiſchen Boden, das Thier belebt beide, der Menſch
„der herrliche Fremdling mit den ſinnvollen Augen, dem ſchwebenden
Gange, den zartgeſchloſſenen, tonreichen Lippen“ überſchaut, genießt,
beherrſcht, krönt durch ſeine Schönheit alle, iſt die wahre Staffage der
Natur oder richtiger ſie nur die ſeinige, erkennt aber nicht nur ſeine
Brüder in Buſch und Wald, ſondern auch, was wirklich ſeines Gleichen
iſt, kennt er anders, als das Thier ſeines Gleichen kennt, und umfaßt
er in einem Bunde, welcher die Vielen zu einer Idealperſon vereinigt
und darin dem Einzelnen die wahre Perſönlichkeit gibt, wodurch das
menſchliche Individuum abſoluten äſthetiſchen Werth erhält.

Wir haben nun die Formen, in die ſich die menſchliche Schönheit
entfaltet, zu verfolgen.


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[158/0170] nur als unmittelbare Erſcheinung der Seele, wie wir ſie zuerſt zu betrachten haben, hat ihre ganze Bedeutung ſogleich als eine geiſtig durch- leuchtete. Schlechtweg entſprechende Einheit eines Innern und Aeußern iſt auch das Thier; man kann aber und muß vielmehr ebenſowahr und wahrer ſagen, daß das Thier ſein Inneres im allgemeinſten formalen Sinne zwar hat, aber das wahre Innere, das die Natur ſucht, außer ihm, jenſeits ſeiner, über es hinaus im Menſchen liegt, daß ſein Aeußeres dieſes nur erſt geſuchte Innere als ein ſolches, als ein noch nicht gefundenes anzeigt, daher ein wildfremdes Aeußeres iſt, das ankündigt und nicht leiſtet, wogegen das Innere des Menſchen das erreichte Innere iſt, das in ſeinem Aeußeren anzeigt, daß es von ſich ausgeht und bei ſich an- kommt, die bei ſich, bei ihrem Ich angekommene daher über ſich ſelbſt erhabene Natur iſt. Die bisherige Welt hatte ihr Centrum, ihren Schwer- punkt außer ſich, die menſchliche hat ihn in ſich, in der Schöpfung wandelt jetzt ihr König, eine ſatte und erfüllte Schönheit, die Gegenſtand und Zuſchauer zugleich iſt, die daher dem äußeren Zuſchauer ſein Selbſt entgegenbringt. Die Natur hat darum nicht aufgehört, weil ſie ſich ſelbſt übertroffen hat, ſie beſteht als Königreich des Herren fort; die Pflanze ſchmückt den unorganiſchen Boden, das Thier belebt beide, der Menſch „der herrliche Fremdling mit den ſinnvollen Augen, dem ſchwebenden Gange, den zartgeſchloſſenen, tonreichen Lippen“ überſchaut, genießt, beherrſcht, krönt durch ſeine Schönheit alle, iſt die wahre Staffage der Natur oder richtiger ſie nur die ſeinige, erkennt aber nicht nur ſeine Brüder in Buſch und Wald, ſondern auch, was wirklich ſeines Gleichen iſt, kennt er anders, als das Thier ſeines Gleichen kennt, und umfaßt er in einem Bunde, welcher die Vielen zu einer Idealperſon vereinigt und darin dem Einzelnen die wahre Perſönlichkeit gibt, wodurch das menſchliche Individuum abſoluten äſthetiſchen Werth erhält. Wir haben nun die Formen, in die ſich die menſchliche Schönheit entfaltet, zu verfolgen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/170>, abgerufen am 28.04.2024.