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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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mußte "die Physiognomik in ihrem eigenen Fett ersticken." Behält man
sich dagegen vor, durchaus keinen Schlüssel zur Menschenkennerei zu
suchen, sondern nur einige leichte Linien in das Dunkel zu zeichnen, worin
die Natur (und die Kunst) Menschenbilder, Seele und Leib mit Einem
Schlage, webt, bescheidet man sich, dadurch Individuen zu definiren, räumt
man vielmehr ein, daß man höchstens mit ungewissem Griffel einige
Kategorien, in die sie mit unendlichen Abweichungen fallen, zu umreißen
suchen wolle, so mag man es versuchen, jene Symbolik des demiurgischen
Naturgeistes in einigen seiner Typen zu belauschen, und dabei mag
Aristoteles Recht haben, wenn er theils die Bildung von Thieren, die
einen einfach bestimmten Charakter haben, von Völkern, vom Geschlechte
(ein Mann von sehr weichem Fleisch wird einen weiblichen Charakter
haben u. dergl.), theils gewisse pathognomische Formen (z. B. wem
die Gesichtsmuskeln von Natur schlaff hängen wie dem Niedergeschlagenen,
der wird von Natur zur Niedergeschlagenheit neigen), zu Grunde
legt. Am ergiebigsten ist unter diesen Analogien wohl die letztere: es
drückt sich Niemand zusammen, wenn er etwas Erhabenes, es richtet sich
Niemand auf, wenn er etwas Niedriges ausspricht, und dieß geschieht
ganz unwillkührlich, es ist unbewußte Symbolik; sollte nicht die Natur vor
allem Gegensatze des Bewußten und Unbewußten eine ähnliche Symbolik
üben? Niederdrücken, was unbedeutend, erhöhen, was bedeutend sein,
in Tiefe und Breite strecken, was mächtig in die Realität wirken soll?
Aus diesem Standpunkte kann man einige Ansätze anspruchloser Physiognomik
machen, immer mit einem Wenn: wenn nämlich, muß man hinzusetzen,
die übrigen Züge ebendasselbe aussprechen, wenn kein anderer das
Gegentheil aussagt: und diese Ironie, dieses Sichselbstaufheben, dieses
meden orizein ist in einem so geheimnißvollen Felde eben das Wahre.

Die Physiognomik faßt zunächst die festeste der Formen in's Auge,
den Knochen. Die Grundform des ganzen Körpers ist zwar durch das
Knochengerüste bedingt, aber an allen übrigen Theilen tritt die Umhüllung
mit Muskel und Haut wesentlich hinzu, nur der Schädel ist mit einer so
dünnen Hautschwarte überzogen, daß der Umriß fast durch das Harte
allein sich bildet: Schädelkunde. Die sogenannte Schädel-Lehre ist
Charlatanerie und geht die Aesthetik schon deßwegen nichts an, weil die
ästhetische Anschauung sich nicht auf Betastungen einlassen kann. Nur die
großen Haupt- und Grundformen des Schädelbaus wird man immer als
bezeichnend ansehen. Tiefe Wölbung nach hinten wird immer als Aus-
druck praktischer Energie erscheinen, wenn sie nicht auf Kosten der Stirne
entwickelt ist, wenn aber dieß, als Ausdruck von Sinnlichkeit und Dummheit.
Geist wird man immer in dem höheren Schädel suchen, wenn nicht die
Höhe so auf Kosten der Tiefe geht, daß ein Spitzkopf entsteht, der

mußte „die Phyſiognomik in ihrem eigenen Fett erſticken.“ Behält man
ſich dagegen vor, durchaus keinen Schlüſſel zur Menſchenkennerei zu
ſuchen, ſondern nur einige leichte Linien in das Dunkel zu zeichnen, worin
die Natur (und die Kunſt) Menſchenbilder, Seele und Leib mit Einem
Schlage, webt, beſcheidet man ſich, dadurch Individuen zu definiren, räumt
man vielmehr ein, daß man höchſtens mit ungewiſſem Griffel einige
Kategorien, in die ſie mit unendlichen Abweichungen fallen, zu umreißen
ſuchen wolle, ſo mag man es verſuchen, jene Symbolik des demiurgiſchen
Naturgeiſtes in einigen ſeiner Typen zu belauſchen, und dabei mag
Ariſtoteles Recht haben, wenn er theils die Bildung von Thieren, die
einen einfach beſtimmten Charakter haben, von Völkern, vom Geſchlechte
(ein Mann von ſehr weichem Fleiſch wird einen weiblichen Charakter
haben u. dergl.), theils gewiſſe pathognomiſche Formen (z. B. wem
die Geſichtsmuskeln von Natur ſchlaff hängen wie dem Niedergeſchlagenen,
der wird von Natur zur Niedergeſchlagenheit neigen), zu Grunde
legt. Am ergiebigſten iſt unter dieſen Analogien wohl die letztere: es
drückt ſich Niemand zuſammen, wenn er etwas Erhabenes, es richtet ſich
Niemand auf, wenn er etwas Niedriges ausſpricht, und dieß geſchieht
ganz unwillkührlich, es iſt unbewußte Symbolik; ſollte nicht die Natur vor
allem Gegenſatze des Bewußten und Unbewußten eine ähnliche Symbolik
üben? Niederdrücken, was unbedeutend, erhöhen, was bedeutend ſein,
in Tiefe und Breite ſtrecken, was mächtig in die Realität wirken ſoll?
Aus dieſem Standpunkte kann man einige Anſätze anſpruchloſer Phyſiognomik
machen, immer mit einem Wenn: wenn nämlich, muß man hinzuſetzen,
die übrigen Züge ebendasſelbe ausſprechen, wenn kein anderer das
Gegentheil ausſagt: und dieſe Ironie, dieſes Sichſelbſtaufheben, dieſes
μηδὲν ὁρίζειν iſt in einem ſo geheimnißvollen Felde eben das Wahre.

Die Phyſiognomik faßt zunächſt die feſteſte der Formen in’s Auge,
den Knochen. Die Grundform des ganzen Körpers iſt zwar durch das
Knochengerüſte bedingt, aber an allen übrigen Theilen tritt die Umhüllung
mit Muskel und Haut weſentlich hinzu, nur der Schädel iſt mit einer ſo
dünnen Hautſchwarte überzogen, daß der Umriß faſt durch das Harte
allein ſich bildet: Schädelkunde. Die ſogenannte Schädel-Lehre iſt
Charlatanerie und geht die Aeſthetik ſchon deßwegen nichts an, weil die
äſthetiſche Anſchauung ſich nicht auf Betaſtungen einlaſſen kann. Nur die
großen Haupt- und Grundformen des Schädelbaus wird man immer als
bezeichnend anſehen. Tiefe Wölbung nach hinten wird immer als Aus-
druck praktiſcher Energie erſcheinen, wenn ſie nicht auf Koſten der Stirne
entwickelt iſt, wenn aber dieß, als Ausdruck von Sinnlichkeit und Dummheit.
Geiſt wird man immer in dem höheren Schädel ſuchen, wenn nicht die
Höhe ſo auf Koſten der Tiefe geht, daß ein Spitzkopf entſteht, der

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[208/0220] mußte „die Phyſiognomik in ihrem eigenen Fett erſticken.“ Behält man ſich dagegen vor, durchaus keinen Schlüſſel zur Menſchenkennerei zu ſuchen, ſondern nur einige leichte Linien in das Dunkel zu zeichnen, worin die Natur (und die Kunſt) Menſchenbilder, Seele und Leib mit Einem Schlage, webt, beſcheidet man ſich, dadurch Individuen zu definiren, räumt man vielmehr ein, daß man höchſtens mit ungewiſſem Griffel einige Kategorien, in die ſie mit unendlichen Abweichungen fallen, zu umreißen ſuchen wolle, ſo mag man es verſuchen, jene Symbolik des demiurgiſchen Naturgeiſtes in einigen ſeiner Typen zu belauſchen, und dabei mag Ariſtoteles Recht haben, wenn er theils die Bildung von Thieren, die einen einfach beſtimmten Charakter haben, von Völkern, vom Geſchlechte (ein Mann von ſehr weichem Fleiſch wird einen weiblichen Charakter haben u. dergl.), theils gewiſſe pathognomiſche Formen (z. B. wem die Geſichtsmuskeln von Natur ſchlaff hängen wie dem Niedergeſchlagenen, der wird von Natur zur Niedergeſchlagenheit neigen), zu Grunde legt. Am ergiebigſten iſt unter dieſen Analogien wohl die letztere: es drückt ſich Niemand zuſammen, wenn er etwas Erhabenes, es richtet ſich Niemand auf, wenn er etwas Niedriges ausſpricht, und dieß geſchieht ganz unwillkührlich, es iſt unbewußte Symbolik; ſollte nicht die Natur vor allem Gegenſatze des Bewußten und Unbewußten eine ähnliche Symbolik üben? Niederdrücken, was unbedeutend, erhöhen, was bedeutend ſein, in Tiefe und Breite ſtrecken, was mächtig in die Realität wirken ſoll? Aus dieſem Standpunkte kann man einige Anſätze anſpruchloſer Phyſiognomik machen, immer mit einem Wenn: wenn nämlich, muß man hinzuſetzen, die übrigen Züge ebendasſelbe ausſprechen, wenn kein anderer das Gegentheil ausſagt: und dieſe Ironie, dieſes Sichſelbſtaufheben, dieſes μηδὲν ὁρίζειν iſt in einem ſo geheimnißvollen Felde eben das Wahre. Die Phyſiognomik faßt zunächſt die feſteſte der Formen in’s Auge, den Knochen. Die Grundform des ganzen Körpers iſt zwar durch das Knochengerüſte bedingt, aber an allen übrigen Theilen tritt die Umhüllung mit Muskel und Haut weſentlich hinzu, nur der Schädel iſt mit einer ſo dünnen Hautſchwarte überzogen, daß der Umriß faſt durch das Harte allein ſich bildet: Schädelkunde. Die ſogenannte Schädel-Lehre iſt Charlatanerie und geht die Aeſthetik ſchon deßwegen nichts an, weil die äſthetiſche Anſchauung ſich nicht auf Betaſtungen einlaſſen kann. Nur die großen Haupt- und Grundformen des Schädelbaus wird man immer als bezeichnend anſehen. Tiefe Wölbung nach hinten wird immer als Aus- druck praktiſcher Energie erſcheinen, wenn ſie nicht auf Koſten der Stirne entwickelt iſt, wenn aber dieß, als Ausdruck von Sinnlichkeit und Dummheit. Geiſt wird man immer in dem höheren Schädel ſuchen, wenn nicht die Höhe ſo auf Koſten der Tiefe geht, daß ein Spitzkopf entſteht, der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/220>, abgerufen am 29.04.2024.