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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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in immer höheren und reicheren Formen durch alle Reiche der Natur geht; aber
in ihm selbst erlischt es, sobald es gebildet hat, er ist todt und wenn seine
Form durch Zertrümmerung zu Grunde geht, so bleibt die Substanz der Bruch-
2stücke unverändert. Ueberdieß ist er zu klein, um schön zu sein (vergl. §. 36, 1.).

1. Der eigentliche ästhetische Mangel des Krystalls, die Leblosigkeit,
wurde im vorh. §. dadurch eingeleitet, daß ihm die runden Linien fehlen,
denn diese sind nicht nur ein Bild des Lebendigen, sondern sie kommen,
wo Leben ist, auch überall wirklich vor. Der Uebergang nun, um diesen
Mangel förmlich auszusprechen, wird im gegenwärtigen §. durch Herein-
ziehung des Begriffs der Zufälligkeit genommen. Diese ist gefordert in
§. 31 ff. und nachgewiesen, daß sie sich zur unendlichen Eigenheit des
Individuums steigert. Nun ist freilich kein Krystall derselben Art dem
andern völlig gleich; die Flächen sind gekrümmt, rauh, drusig, unvoll-
zählich, die Umrisse unvollständig u. s. w., allein wo kein Leben ist, da faßt
sich das Individuum in dem, wodurch es von der Gattung oder Art ab-
weicht, nicht zur unendlichen Eigenheit zusammen, die Zufälligkeit hat daher
nur die Bedeutung der Abweichung oder Abnormität; der Mangel wird
nicht zum Reize, sich zu ergänzen, soweit es möglich ist, und, soweit es
nicht möglich ist, sich in der ganzen Einseitigkeit energisch zu behaupten.
Schon bei der Pflanze ist dieß anders. Hiemit ist also der eigentliche
Grundmangel, die Leblosigkeit, bereits ausgesprochen.

2. Der wichtige Satz des Aristoteles, der hier nach seiner einen Seite
in Geltung tritt, ist §. 36, 1. und näher in der Anm. zu 1 gegeben. Dieser
Satz, daß das Schöne eine gewisse Größe haben müsse, daß es nicht zu
klein, nicht zu groß sein dürfe, gehört, wie dort im Verlaufe gezeigt ist,
unter diejenigen Bestimmungen, wodurch nicht das Wesen des Schönen,
sondern nur eine negative Bedingung desselben ausgesprochen ist; in dieser
Beschränkung aber ist er von vollem Gewichte. Die Anschauung, sagt
Aristoteles, fließt unterschiedslos zusammen, wenn sie in beinahe unbe-
merkbarer Zeit geschieht. Die Formen des Krystalls sind nun zwar scharf
und bestimmt genug, um deutliche Unterscheidung zuzulassen, allein auch
Aristoteles spricht von einem ganz deutlich gebildeten Kleinen, wenn er
dazwischen bemerkt, daß ein ganz kleines Thier nicht schön sein könne.
Die Theilanschauungen sind bei einem Insekt wie bei einem Krystall deutlich,
aber die Anschauung umspannt jeden Theil in so kurzer Zeit, daß in der
Uebersicht dennoch alle ineinanderfließen. Groß und klein sind allerdings
nur relative Begriffe, allein das menschliche Auge hat einmal sein Maaß
und Alles, was eine besondere Anstrengung fordert, um die Theile in der
Anschauung auseinanderzuhalten, kann, wenn es außerdem gewisse Momente
des Schönen enthält, nur zierlich oder niedlich heißen. Was dagegen groß

in immer höheren und reicheren Formen durch alle Reiche der Natur geht; aber
in ihm ſelbſt erliſcht es, ſobald es gebildet hat, er iſt todt und wenn ſeine
Form durch Zertrümmerung zu Grunde geht, ſo bleibt die Subſtanz der Bruch-
2ſtücke unverändert. Ueberdieß iſt er zu klein, um ſchön zu ſein (vergl. §. 36, 1.).

1. Der eigentliche äſthetiſche Mangel des Kryſtalls, die Lebloſigkeit,
wurde im vorh. §. dadurch eingeleitet, daß ihm die runden Linien fehlen,
denn dieſe ſind nicht nur ein Bild des Lebendigen, ſondern ſie kommen,
wo Leben iſt, auch überall wirklich vor. Der Uebergang nun, um dieſen
Mangel förmlich auszuſprechen, wird im gegenwärtigen §. durch Herein-
ziehung des Begriffs der Zufälligkeit genommen. Dieſe iſt gefordert in
§. 31 ff. und nachgewieſen, daß ſie ſich zur unendlichen Eigenheit des
Individuums ſteigert. Nun iſt freilich kein Kryſtall derſelben Art dem
andern völlig gleich; die Flächen ſind gekrümmt, rauh, druſig, unvoll-
zählich, die Umriſſe unvollſtändig u. ſ. w., allein wo kein Leben iſt, da faßt
ſich das Individuum in dem, wodurch es von der Gattung oder Art ab-
weicht, nicht zur unendlichen Eigenheit zuſammen, die Zufälligkeit hat daher
nur die Bedeutung der Abweichung oder Abnormität; der Mangel wird
nicht zum Reize, ſich zu ergänzen, ſoweit es möglich iſt, und, ſoweit es
nicht möglich iſt, ſich in der ganzen Einſeitigkeit energiſch zu behaupten.
Schon bei der Pflanze iſt dieß anders. Hiemit iſt alſo der eigentliche
Grundmangel, die Lebloſigkeit, bereits ausgeſprochen.

2. Der wichtige Satz des Ariſtoteles, der hier nach ſeiner einen Seite
in Geltung tritt, iſt §. 36, 1. und näher in der Anm. zu 1 gegeben. Dieſer
Satz, daß das Schöne eine gewiſſe Größe haben müſſe, daß es nicht zu
klein, nicht zu groß ſein dürfe, gehört, wie dort im Verlaufe gezeigt iſt,
unter diejenigen Beſtimmungen, wodurch nicht das Weſen des Schönen,
ſondern nur eine negative Bedingung deſſelben ausgeſprochen iſt; in dieſer
Beſchränkung aber iſt er von vollem Gewichte. Die Anſchauung, ſagt
Ariſtoteles, fließt unterſchiedslos zuſammen, wenn ſie in beinahe unbe-
merkbarer Zeit geſchieht. Die Formen des Kryſtalls ſind nun zwar ſcharf
und beſtimmt genug, um deutliche Unterſcheidung zuzulaſſen, allein auch
Ariſtoteles ſpricht von einem ganz deutlich gebildeten Kleinen, wenn er
dazwiſchen bemerkt, daß ein ganz kleines Thier nicht ſchön ſein könne.
Die Theilanſchauungen ſind bei einem Inſekt wie bei einem Kryſtall deutlich,
aber die Anſchauung umſpannt jeden Theil in ſo kurzer Zeit, daß in der
Ueberſicht dennoch alle ineinanderfließen. Groß und klein ſind allerdings
nur relative Begriffe, allein das menſchliche Auge hat einmal ſein Maaß
und Alles, was eine beſondere Anſtrengung fordert, um die Theile in der
Anſchauung auseinanderzuhalten, kann, wenn es außerdem gewiſſe Momente
des Schönen enthält, nur zierlich oder niedlich heißen. Was dagegen groß

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[74/0086] in immer höheren und reicheren Formen durch alle Reiche der Natur geht; aber in ihm ſelbſt erliſcht es, ſobald es gebildet hat, er iſt todt und wenn ſeine Form durch Zertrümmerung zu Grunde geht, ſo bleibt die Subſtanz der Bruch- ſtücke unverändert. Ueberdieß iſt er zu klein, um ſchön zu ſein (vergl. §. 36, 1.). 1. Der eigentliche äſthetiſche Mangel des Kryſtalls, die Lebloſigkeit, wurde im vorh. §. dadurch eingeleitet, daß ihm die runden Linien fehlen, denn dieſe ſind nicht nur ein Bild des Lebendigen, ſondern ſie kommen, wo Leben iſt, auch überall wirklich vor. Der Uebergang nun, um dieſen Mangel förmlich auszuſprechen, wird im gegenwärtigen §. durch Herein- ziehung des Begriffs der Zufälligkeit genommen. Dieſe iſt gefordert in §. 31 ff. und nachgewieſen, daß ſie ſich zur unendlichen Eigenheit des Individuums ſteigert. Nun iſt freilich kein Kryſtall derſelben Art dem andern völlig gleich; die Flächen ſind gekrümmt, rauh, druſig, unvoll- zählich, die Umriſſe unvollſtändig u. ſ. w., allein wo kein Leben iſt, da faßt ſich das Individuum in dem, wodurch es von der Gattung oder Art ab- weicht, nicht zur unendlichen Eigenheit zuſammen, die Zufälligkeit hat daher nur die Bedeutung der Abweichung oder Abnormität; der Mangel wird nicht zum Reize, ſich zu ergänzen, ſoweit es möglich iſt, und, ſoweit es nicht möglich iſt, ſich in der ganzen Einſeitigkeit energiſch zu behaupten. Schon bei der Pflanze iſt dieß anders. Hiemit iſt alſo der eigentliche Grundmangel, die Lebloſigkeit, bereits ausgeſprochen. 2. Der wichtige Satz des Ariſtoteles, der hier nach ſeiner einen Seite in Geltung tritt, iſt §. 36, 1. und näher in der Anm. zu 1 gegeben. Dieſer Satz, daß das Schöne eine gewiſſe Größe haben müſſe, daß es nicht zu klein, nicht zu groß ſein dürfe, gehört, wie dort im Verlaufe gezeigt iſt, unter diejenigen Beſtimmungen, wodurch nicht das Weſen des Schönen, ſondern nur eine negative Bedingung deſſelben ausgeſprochen iſt; in dieſer Beſchränkung aber iſt er von vollem Gewichte. Die Anſchauung, ſagt Ariſtoteles, fließt unterſchiedslos zuſammen, wenn ſie in beinahe unbe- merkbarer Zeit geſchieht. Die Formen des Kryſtalls ſind nun zwar ſcharf und beſtimmt genug, um deutliche Unterſcheidung zuzulaſſen, allein auch Ariſtoteles ſpricht von einem ganz deutlich gebildeten Kleinen, wenn er dazwiſchen bemerkt, daß ein ganz kleines Thier nicht ſchön ſein könne. Die Theilanſchauungen ſind bei einem Inſekt wie bei einem Kryſtall deutlich, aber die Anſchauung umſpannt jeden Theil in ſo kurzer Zeit, daß in der Ueberſicht dennoch alle ineinanderfließen. Groß und klein ſind allerdings nur relative Begriffe, allein das menſchliche Auge hat einmal ſein Maaß und Alles, was eine beſondere Anſtrengung fordert, um die Theile in der Anſchauung auseinanderzuhalten, kann, wenn es außerdem gewiſſe Momente des Schönen enthält, nur zierlich oder niedlich heißen. Was dagegen groß

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/86>, abgerufen am 28.04.2024.