Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

dieses nebenher in verschiedenerlei Formen herumwerfen. Das Genie aber ist
concentrirt und zwar nicht blos durch den Willen, sondern die Bestimmt-
heit des Instincts, der so sicher wie im Thiere nur der Einen rechten
Nahrung nachgeht, und wir müssen es nun, um seine Beschränkung ein-
zusehen, mit dieser Form genauer nehmen, da wir die Sache zu §. 409
nur erst bei Gelegenheit der Technik berührt haben. Wir haben, da wir
nun mit den in §. 404 aufgestellten Formen beginnen müssen, zuerst drei
Arten: bildende, empfindende, dichtende Phantasie. Diese haben Unter-
arten, die erste aber so scharfe, daß sie sich in drei selbstständige Sphären:
messende, sehend tastende, eigentlich sehende Phantasie (Architektur, Plastik,
Malerei) theilt. Keineswegs ebenso selbstständig stellen sich die Unterarten
der beiden andern Arten einander gegenüber (vergl. die Anmerkungen
zu §. 404). Die Unterarten haben aber selbst wieder Unterarten, welche
theils durch einen weitern Unterschied in der Organisation der Phantasie
überhaupt, theils durch die Formen des einfach Schönen u. s. w., theils
durch die Richtung auf Sphären des Stoffs gegeben sind, also bereits
auf das Feld führen, auf das der zweite Theil unseres §. übergeht; so
theilt sich die Malerei als Unterart der bildenden Kunst in Landschaft,
Genre, Historie u. s. w. Vor Allem nun wird das Genie jedenfalls nur
in Einer Art groß sein: Leonardo da Vinci war Musiker und Dichter,
Michel Angelo machte Verse, Göthe malte, wie er denn auch in der
Poesie vorzüglich auf das Auge, also das Epos organisirt war, aber in die-
sen andern Künsten waren diese Genies nur Dilettanten, höchstens Talente.
Sehen wir nun die ersten Unterarten an, so wird da die Vereinigung
mehrerer eher Statt finden, doch ungleich, "nach Beschaffenheit" der Art,
also nach dem Grade der Selbstständigkeit dieser ihrer Hauptzweige. Viel
leichter wird ein Dichter in Epos, Lyrik und Drama zugleich groß sein
(doch schwerlich wohl im ersten und dritten, eher im ersten und zweiten
oder zweiten und dritten), oder ein Musiker in den verschiedenen Zweigen
der Musik, als ein bildendes Genie in der Baukunst, Plastik, Malerei
zumal, denn diese Unterarten sind so selbständig, daß jede einen ganzen
Mann will. Leonardo baute, doch nicht Schönes, sondern Nützliches,
modellirte, doch nur Ein Werk dieser Art von ihm wurde gerühmt, Ra-
phael baute, doch nur gefällig, mit Talent, modellirte, doch nur Ein Werk
wird als bedeutend erwähnt, Michel Angelo baute bedeutend, war bedeutend
als Bildhauer, aber in beiden war er doch nicht Genie, die Plastik be-
bandelte er zu malerisch und obwohl er dagegen in der Malerei plastisch
genannt werden kann, war er doch ganz Maler. A. Dürer war auch als
Kupferstecher und Holzschneider genial, doch dieß sind ganz nahe angren-
zende Nebenzweige der Malerei. Nun kommen die Unterarten zweiter
Linie. Wird z. B. derselbe Bildhauer in Götterbildern, Genrebildern,

dieſes nebenher in verſchiedenerlei Formen herumwerfen. Das Genie aber iſt
concentrirt und zwar nicht blos durch den Willen, ſondern die Beſtimmt-
heit des Inſtincts, der ſo ſicher wie im Thiere nur der Einen rechten
Nahrung nachgeht, und wir müſſen es nun, um ſeine Beſchränkung ein-
zuſehen, mit dieſer Form genauer nehmen, da wir die Sache zu §. 409
nur erſt bei Gelegenheit der Technik berührt haben. Wir haben, da wir
nun mit den in §. 404 aufgeſtellten Formen beginnen müſſen, zuerſt drei
Arten: bildende, empfindende, dichtende Phantaſie. Dieſe haben Unter-
arten, die erſte aber ſo ſcharfe, daß ſie ſich in drei ſelbſtſtändige Sphären:
meſſende, ſehend taſtende, eigentlich ſehende Phantaſie (Architektur, Plaſtik,
Malerei) theilt. Keineswegs ebenſo ſelbſtſtändig ſtellen ſich die Unterarten
der beiden andern Arten einander gegenüber (vergl. die Anmerkungen
zu §. 404). Die Unterarten haben aber ſelbſt wieder Unterarten, welche
theils durch einen weitern Unterſchied in der Organiſation der Phantaſie
überhaupt, theils durch die Formen des einfach Schönen u. ſ. w., theils
durch die Richtung auf Sphären des Stoffs gegeben ſind, alſo bereits
auf das Feld führen, auf das der zweite Theil unſeres §. übergeht; ſo
theilt ſich die Malerei als Unterart der bildenden Kunſt in Landſchaft,
Genre, Hiſtorie u. ſ. w. Vor Allem nun wird das Genie jedenfalls nur
in Einer Art groß ſein: Leonardo da Vinci war Muſiker und Dichter,
Michel Angelo machte Verſe, Göthe malte, wie er denn auch in der
Poeſie vorzüglich auf das Auge, alſo das Epos organiſirt war, aber in die-
ſen andern Künſten waren dieſe Genies nur Dilettanten, höchſtens Talente.
Sehen wir nun die erſten Unterarten an, ſo wird da die Vereinigung
mehrerer eher Statt finden, doch ungleich, „nach Beſchaffenheit“ der Art,
alſo nach dem Grade der Selbſtſtändigkeit dieſer ihrer Hauptzweige. Viel
leichter wird ein Dichter in Epos, Lyrik und Drama zugleich groß ſein
(doch ſchwerlich wohl im erſten und dritten, eher im erſten und zweiten
oder zweiten und dritten), oder ein Muſiker in den verſchiedenen Zweigen
der Muſik, als ein bildendes Genie in der Baukunſt, Plaſtik, Malerei
zumal, denn dieſe Unterarten ſind ſo ſelbſtändig, daß jede einen ganzen
Mann will. Leonardo baute, doch nicht Schönes, ſondern Nützliches,
modellirte, doch nur Ein Werk dieſer Art von ihm wurde gerühmt, Ra-
phael baute, doch nur gefällig, mit Talent, modellirte, doch nur Ein Werk
wird als bedeutend erwähnt, Michel Angelo baute bedeutend, war bedeutend
als Bildhauer, aber in beiden war er doch nicht Genie, die Plaſtik be-
bandelte er zu maleriſch und obwohl er dagegen in der Malerei plaſtiſch
genannt werden kann, war er doch ganz Maler. A. Dürer war auch als
Kupferſtecher und Holzſchneider genial, doch dieß ſind ganz nahe angren-
zende Nebenzweige der Malerei. Nun kommen die Unterarten zweiter
Linie. Wird z. B. derſelbe Bildhauer in Götterbildern, Genrebildern,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p>
                    <pb facs="#f0112" n="398"/> <hi rendition="#et">die&#x017F;es nebenher in ver&#x017F;chiedenerlei Formen herumwerfen. Das Genie aber i&#x017F;t<lb/>
concentrirt und zwar nicht blos durch den Willen, &#x017F;ondern die Be&#x017F;timmt-<lb/>
heit des In&#x017F;tincts, der &#x017F;o &#x017F;icher wie im Thiere nur der Einen rechten<lb/>
Nahrung nachgeht, und wir mü&#x017F;&#x017F;en es nun, um &#x017F;eine Be&#x017F;chränkung ein-<lb/>
zu&#x017F;ehen, mit die&#x017F;er Form genauer nehmen, da wir die Sache zu §. 409<lb/>
nur er&#x017F;t bei Gelegenheit der Technik berührt haben. Wir haben, da wir<lb/>
nun mit den in §. 404 aufge&#x017F;tellten Formen beginnen mü&#x017F;&#x017F;en, zuer&#x017F;t drei<lb/>
Arten: bildende, empfindende, dichtende Phanta&#x017F;ie. Die&#x017F;e haben Unter-<lb/>
arten, die er&#x017F;te aber &#x017F;o &#x017F;charfe, daß &#x017F;ie &#x017F;ich in drei &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändige Sphären:<lb/>
me&#x017F;&#x017F;ende, &#x017F;ehend ta&#x017F;tende, eigentlich &#x017F;ehende Phanta&#x017F;ie (Architektur, Pla&#x017F;tik,<lb/>
Malerei) theilt. Keineswegs eben&#x017F;o &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändig &#x017F;tellen &#x017F;ich die Unterarten<lb/>
der beiden andern Arten einander gegenüber (vergl. die Anmerkungen<lb/>
zu §. 404). Die Unterarten haben aber &#x017F;elb&#x017F;t wieder Unterarten, welche<lb/>
theils durch einen weitern Unter&#x017F;chied in der Organi&#x017F;ation der Phanta&#x017F;ie<lb/>
überhaupt, theils durch die Formen des einfach Schönen u. &#x017F;. w., theils<lb/>
durch die Richtung auf Sphären des Stoffs gegeben &#x017F;ind, al&#x017F;o bereits<lb/>
auf das Feld führen, auf das der zweite Theil un&#x017F;eres §. übergeht; &#x017F;o<lb/>
theilt &#x017F;ich die Malerei als Unterart der bildenden Kun&#x017F;t in Land&#x017F;chaft,<lb/>
Genre, Hi&#x017F;torie u. &#x017F;. w. Vor Allem nun wird das Genie jedenfalls nur<lb/>
in Einer <hi rendition="#g">Art</hi> groß &#x017F;ein: Leonardo da Vinci war Mu&#x017F;iker und Dichter,<lb/>
Michel Angelo machte Ver&#x017F;e, Göthe malte, wie er denn auch in der<lb/>
Poe&#x017F;ie vorzüglich auf das Auge, al&#x017F;o das Epos organi&#x017F;irt war, aber in die-<lb/>
&#x017F;en andern Kün&#x017F;ten waren die&#x017F;e Genies nur Dilettanten, höch&#x017F;tens Talente.<lb/>
Sehen wir nun die er&#x017F;ten Unterarten an, &#x017F;o wird da die Vereinigung<lb/>
mehrerer eher Statt finden, doch ungleich, &#x201E;nach Be&#x017F;chaffenheit&#x201C; der Art,<lb/>
al&#x017F;o nach dem Grade der Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit die&#x017F;er ihrer Hauptzweige. Viel<lb/>
leichter wird ein Dichter in Epos, Lyrik und Drama zugleich groß &#x017F;ein<lb/>
(doch &#x017F;chwerlich wohl im er&#x017F;ten und dritten, eher im er&#x017F;ten und zweiten<lb/>
oder zweiten und dritten), oder ein Mu&#x017F;iker in den ver&#x017F;chiedenen Zweigen<lb/>
der Mu&#x017F;ik, als ein bildendes Genie in der Baukun&#x017F;t, Pla&#x017F;tik, Malerei<lb/>
zumal, denn die&#x017F;e Unterarten &#x017F;ind &#x017F;o &#x017F;elb&#x017F;tändig, daß jede einen ganzen<lb/>
Mann will. Leonardo baute, doch nicht Schönes, &#x017F;ondern Nützliches,<lb/>
modellirte, doch nur Ein Werk die&#x017F;er Art von ihm wurde gerühmt, Ra-<lb/>
phael baute, doch nur gefällig, mit Talent, modellirte, doch nur Ein Werk<lb/>
wird als bedeutend erwähnt, Michel Angelo baute bedeutend, war bedeutend<lb/>
als Bildhauer, aber in beiden war er doch nicht Genie, die Pla&#x017F;tik be-<lb/>
bandelte er zu maleri&#x017F;ch und obwohl er dagegen in der Malerei pla&#x017F;ti&#x017F;ch<lb/>
genannt werden kann, war er doch ganz Maler. A. Dürer war auch als<lb/>
Kupfer&#x017F;techer und Holz&#x017F;chneider genial, doch dieß &#x017F;ind ganz nahe angren-<lb/>
zende Nebenzweige der Malerei. Nun kommen die Unterarten zweiter<lb/>
Linie. Wird z. B. der&#x017F;elbe Bildhauer in Götterbildern, Genrebildern,<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0112] dieſes nebenher in verſchiedenerlei Formen herumwerfen. Das Genie aber iſt concentrirt und zwar nicht blos durch den Willen, ſondern die Beſtimmt- heit des Inſtincts, der ſo ſicher wie im Thiere nur der Einen rechten Nahrung nachgeht, und wir müſſen es nun, um ſeine Beſchränkung ein- zuſehen, mit dieſer Form genauer nehmen, da wir die Sache zu §. 409 nur erſt bei Gelegenheit der Technik berührt haben. Wir haben, da wir nun mit den in §. 404 aufgeſtellten Formen beginnen müſſen, zuerſt drei Arten: bildende, empfindende, dichtende Phantaſie. Dieſe haben Unter- arten, die erſte aber ſo ſcharfe, daß ſie ſich in drei ſelbſtſtändige Sphären: meſſende, ſehend taſtende, eigentlich ſehende Phantaſie (Architektur, Plaſtik, Malerei) theilt. Keineswegs ebenſo ſelbſtſtändig ſtellen ſich die Unterarten der beiden andern Arten einander gegenüber (vergl. die Anmerkungen zu §. 404). Die Unterarten haben aber ſelbſt wieder Unterarten, welche theils durch einen weitern Unterſchied in der Organiſation der Phantaſie überhaupt, theils durch die Formen des einfach Schönen u. ſ. w., theils durch die Richtung auf Sphären des Stoffs gegeben ſind, alſo bereits auf das Feld führen, auf das der zweite Theil unſeres §. übergeht; ſo theilt ſich die Malerei als Unterart der bildenden Kunſt in Landſchaft, Genre, Hiſtorie u. ſ. w. Vor Allem nun wird das Genie jedenfalls nur in Einer Art groß ſein: Leonardo da Vinci war Muſiker und Dichter, Michel Angelo machte Verſe, Göthe malte, wie er denn auch in der Poeſie vorzüglich auf das Auge, alſo das Epos organiſirt war, aber in die- ſen andern Künſten waren dieſe Genies nur Dilettanten, höchſtens Talente. Sehen wir nun die erſten Unterarten an, ſo wird da die Vereinigung mehrerer eher Statt finden, doch ungleich, „nach Beſchaffenheit“ der Art, alſo nach dem Grade der Selbſtſtändigkeit dieſer ihrer Hauptzweige. Viel leichter wird ein Dichter in Epos, Lyrik und Drama zugleich groß ſein (doch ſchwerlich wohl im erſten und dritten, eher im erſten und zweiten oder zweiten und dritten), oder ein Muſiker in den verſchiedenen Zweigen der Muſik, als ein bildendes Genie in der Baukunſt, Plaſtik, Malerei zumal, denn dieſe Unterarten ſind ſo ſelbſtändig, daß jede einen ganzen Mann will. Leonardo baute, doch nicht Schönes, ſondern Nützliches, modellirte, doch nur Ein Werk dieſer Art von ihm wurde gerühmt, Ra- phael baute, doch nur gefällig, mit Talent, modellirte, doch nur Ein Werk wird als bedeutend erwähnt, Michel Angelo baute bedeutend, war bedeutend als Bildhauer, aber in beiden war er doch nicht Genie, die Plaſtik be- bandelte er zu maleriſch und obwohl er dagegen in der Malerei plaſtiſch genannt werden kann, war er doch ganz Maler. A. Dürer war auch als Kupferſtecher und Holzſchneider genial, doch dieß ſind ganz nahe angren- zende Nebenzweige der Malerei. Nun kommen die Unterarten zweiter Linie. Wird z. B. derſelbe Bildhauer in Götterbildern, Genrebildern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/112
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/112>, abgerufen am 29.04.2024.