Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

gezählt werden müssen. Wie sie sich zu den Reihen anderer Arten der
Phantasie verhält, davon nachher.

2. Nun würde, wären wir auf rein ästhetischem Boden, nichts
folgen, als daß die Phantasie des Orients vorzüglich darauf angewiesen
war, landschaftliche und thierische Schönheit darzustellen, denn wenn wir
auf jenem Boden uns befänden, so gälte es nur, die Erscheinungen aus
dieser Sphäre der Stoffwelt so zu idealisiren, daß ihre Gestalt zugleich
mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön-
heit erhoben würde. Allein wir sind davon vielmehr soweit als möglich
noch entfernt und mit einer Phantasie beschäftigt, welche in jene so be-
grenzten Erscheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee,
und daher nichts weniger zu schaffen berufen ist, als landschaftliche und
thierische Schönheit im unbefangen ästhetischen Sinne. Was ist denn nun
dieß Andere? Wir müssen zuerst zurücktreten von der Formthätigkeit der
Phantasie als solcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject
voraussetzten, so hier Volksgeister, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie
sie ihn kennen und verstehen, voraussetzen. Dazu müssen wir dann den
Dualismus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientalischen Cha-
rakter überhaupt aufstellten, und zwar von diesem zunächst die Seite des
brütenden Insichseins, der abstracten Sammlung des Geistes. Dieser
Geist, der, wenn er sich auf die Einheit der Dinge besinnt, die Be-
stimmtheit verliert, wird die absolute Idee nur wie einen unendli-
chen Abgrund ahnen. In diesen Abgrund versenkt er, wie die Be-
stimmtheit der Natur, so auch die sittlich menschliche Bestimmtheit, was
ihm von ihr bekannt ist, und bekannt ist ihm das sittliche Leben nur als
ein solches, das selbst wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat.
Dieser Abgrund ist abstract, aber nicht abstract im Sinne eines logischen
Gedankens, sondern abstract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin-
den, dunkeln unterscheidungslosen Macht. Doch die abstracte Besinnung
setzt allerdings auch Momente, Unterschiede; diese sind aber selbst wieder
abstracte Kategorieen des Naturseins: Sein, Werden, Vergehen, Her-
vorbringen, Nähren u. s. w. Mit solchem Gehalte erfüllt geht der
Mensch an die Natur, findet sie als eine bestimmte örtliche Umgebung
vor. Nun scheint es, da er nur von der unbegeisteten Natur zur Phan-
tasiethätigkeit sollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abstracten Mo-
menten passe dazu, mit den Existenzformen des unbewußten Lebens sich
zu einem Producte der Phantasie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu-
sammenzuschmelzen. Allein jede Naturerscheinung ist individuell, ist be-
stimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Also deckt sich nicht,
was der Geist hinzubringt und was ihm die Naturerscheinung entgegen-
bringt; also kann die Phantasie den Gegenstand nicht innerhalb der be-

gezählt werden müſſen. Wie ſie ſich zu den Reihen anderer Arten der
Phantaſie verhält, davon nachher.

2. Nun würde, wären wir auf rein äſthetiſchem Boden, nichts
folgen, als daß die Phantaſie des Orients vorzüglich darauf angewieſen
war, landſchaftliche und thieriſche Schönheit darzuſtellen, denn wenn wir
auf jenem Boden uns befänden, ſo gälte es nur, die Erſcheinungen aus
dieſer Sphäre der Stoffwelt ſo zu idealiſiren, daß ihre Geſtalt zugleich
mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön-
heit erhoben würde. Allein wir ſind davon vielmehr ſoweit als möglich
noch entfernt und mit einer Phantaſie beſchäftigt, welche in jene ſo be-
grenzten Erſcheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee,
und daher nichts weniger zu ſchaffen berufen iſt, als landſchaftliche und
thieriſche Schönheit im unbefangen äſthetiſchen Sinne. Was iſt denn nun
dieß Andere? Wir müſſen zuerſt zurücktreten von der Formthätigkeit der
Phantaſie als ſolcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject
vorausſetzten, ſo hier Volksgeiſter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie
ſie ihn kennen und verſtehen, vorausſetzen. Dazu müſſen wir dann den
Dualiſmus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientaliſchen Cha-
rakter überhaupt aufſtellten, und zwar von dieſem zunächſt die Seite des
brütenden Inſichſeins, der abſtracten Sammlung des Geiſtes. Dieſer
Geiſt, der, wenn er ſich auf die Einheit der Dinge beſinnt, die Be-
ſtimmtheit verliert, wird die abſolute Idee nur wie einen unendli-
chen Abgrund ahnen. In dieſen Abgrund verſenkt er, wie die Be-
ſtimmtheit der Natur, ſo auch die ſittlich menſchliche Beſtimmtheit, was
ihm von ihr bekannt iſt, und bekannt iſt ihm das ſittliche Leben nur als
ein ſolches, das ſelbſt wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat.
Dieſer Abgrund iſt abſtract, aber nicht abſtract im Sinne eines logiſchen
Gedankens, ſondern abſtract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin-
den, dunkeln unterſcheidungsloſen Macht. Doch die abſtracte Beſinnung
ſetzt allerdings auch Momente, Unterſchiede; dieſe ſind aber ſelbſt wieder
abſtracte Kategorieen des Naturſeins: Sein, Werden, Vergehen, Her-
vorbringen, Nähren u. ſ. w. Mit ſolchem Gehalte erfüllt geht der
Menſch an die Natur, findet ſie als eine beſtimmte örtliche Umgebung
vor. Nun ſcheint es, da er nur von der unbegeiſteten Natur zur Phan-
taſiethätigkeit ſollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abſtracten Mo-
menten paſſe dazu, mit den Exiſtenzformen des unbewußten Lebens ſich
zu einem Producte der Phantaſie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu-
ſammenzuſchmelzen. Allein jede Naturerſcheinung iſt individuell, iſt be-
ſtimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Alſo deckt ſich nicht,
was der Geiſt hinzubringt und was ihm die Naturerſcheinung entgegen-
bringt; alſo kann die Phantaſie den Gegenſtand nicht innerhalb der be-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0132" n="418"/>
gezählt werden mü&#x017F;&#x017F;en. Wie &#x017F;ie &#x017F;ich zu den Reihen anderer Arten der<lb/>
Phanta&#x017F;ie verhält, davon nachher.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Nun würde, wären wir auf rein ä&#x017F;theti&#x017F;chem Boden, nichts<lb/>
folgen, als daß die Phanta&#x017F;ie des Orients vorzüglich darauf angewie&#x017F;en<lb/>
war, land&#x017F;chaftliche und thieri&#x017F;che Schönheit darzu&#x017F;tellen, denn wenn wir<lb/>
auf jenem Boden uns befänden, &#x017F;o gälte es nur, die Er&#x017F;cheinungen aus<lb/>
die&#x017F;er Sphäre der Stoffwelt &#x017F;o zu ideali&#x017F;iren, daß ihre Ge&#x017F;talt zugleich<lb/>
mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön-<lb/>
heit erhoben würde. Allein wir &#x017F;ind davon vielmehr &#x017F;oweit als möglich<lb/>
noch entfernt und mit einer Phanta&#x017F;ie be&#x017F;chäftigt, welche in jene &#x017F;o be-<lb/>
grenzten Er&#x017F;cheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee,<lb/>
und daher nichts weniger zu &#x017F;chaffen berufen i&#x017F;t, als land&#x017F;chaftliche und<lb/>
thieri&#x017F;che Schönheit im unbefangen ä&#x017F;theti&#x017F;chen Sinne. Was i&#x017F;t denn nun<lb/>
dieß Andere? Wir mü&#x017F;&#x017F;en zuer&#x017F;t zurücktreten von der Formthätigkeit der<lb/>
Phanta&#x017F;ie als &#x017F;olcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject<lb/>
voraus&#x017F;etzten, &#x017F;o hier Volksgei&#x017F;ter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie<lb/>
&#x017F;ie ihn kennen und ver&#x017F;tehen, voraus&#x017F;etzen. Dazu mü&#x017F;&#x017F;en wir dann den<lb/>
Duali&#x017F;mus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientali&#x017F;chen Cha-<lb/>
rakter überhaupt auf&#x017F;tellten, und zwar von die&#x017F;em zunäch&#x017F;t die Seite des<lb/>
brütenden In&#x017F;ich&#x017F;eins, der ab&#x017F;tracten Sammlung des Gei&#x017F;tes. Die&#x017F;er<lb/>
Gei&#x017F;t, der, wenn er &#x017F;ich auf die Einheit der Dinge be&#x017F;innt, die Be-<lb/>
&#x017F;timmtheit verliert, wird die ab&#x017F;olute Idee nur wie einen unendli-<lb/>
chen Abgrund ahnen. In die&#x017F;en Abgrund ver&#x017F;enkt er, wie die Be-<lb/>
&#x017F;timmtheit der Natur, &#x017F;o auch die &#x017F;ittlich men&#x017F;chliche Be&#x017F;timmtheit, was<lb/>
ihm von ihr bekannt i&#x017F;t, und bekannt i&#x017F;t ihm das &#x017F;ittliche Leben nur als<lb/>
ein &#x017F;olches, das &#x017F;elb&#x017F;t wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat.<lb/>
Die&#x017F;er Abgrund i&#x017F;t ab&#x017F;tract, aber nicht ab&#x017F;tract im Sinne eines logi&#x017F;chen<lb/>
Gedankens, &#x017F;ondern ab&#x017F;tract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin-<lb/>
den, dunkeln unter&#x017F;cheidungslo&#x017F;en Macht. Doch die ab&#x017F;tracte Be&#x017F;innung<lb/>
&#x017F;etzt allerdings auch Momente, Unter&#x017F;chiede; die&#x017F;e &#x017F;ind aber &#x017F;elb&#x017F;t wieder<lb/>
ab&#x017F;tracte Kategorieen des Natur&#x017F;eins: Sein, Werden, Vergehen, Her-<lb/>
vorbringen, Nähren u. &#x017F;. w. Mit &#x017F;olchem Gehalte erfüllt geht der<lb/>
Men&#x017F;ch an die Natur, findet &#x017F;ie als eine be&#x017F;timmte örtliche Umgebung<lb/>
vor. Nun &#x017F;cheint es, da er nur von der unbegei&#x017F;teten Natur zur Phan-<lb/>
ta&#x017F;iethätigkeit &#x017F;ollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren ab&#x017F;tracten Mo-<lb/>
menten pa&#x017F;&#x017F;e dazu, mit den Exi&#x017F;tenzformen des unbewußten Lebens &#x017F;ich<lb/>
zu einem Producte der Phanta&#x017F;ie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu-<lb/>
&#x017F;ammenzu&#x017F;chmelzen. Allein jede Naturer&#x017F;cheinung i&#x017F;t individuell, i&#x017F;t be-<lb/>
&#x017F;timmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Al&#x017F;o deckt &#x017F;ich nicht,<lb/>
was der Gei&#x017F;t hinzubringt und was ihm die Naturer&#x017F;cheinung entgegen-<lb/>
bringt; al&#x017F;o kann die Phanta&#x017F;ie den Gegen&#x017F;tand nicht innerhalb der be-<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[418/0132] gezählt werden müſſen. Wie ſie ſich zu den Reihen anderer Arten der Phantaſie verhält, davon nachher. 2. Nun würde, wären wir auf rein äſthetiſchem Boden, nichts folgen, als daß die Phantaſie des Orients vorzüglich darauf angewieſen war, landſchaftliche und thieriſche Schönheit darzuſtellen, denn wenn wir auf jenem Boden uns befänden, ſo gälte es nur, die Erſcheinungen aus dieſer Sphäre der Stoffwelt ſo zu idealiſiren, daß ihre Geſtalt zugleich mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön- heit erhoben würde. Allein wir ſind davon vielmehr ſoweit als möglich noch entfernt und mit einer Phantaſie beſchäftigt, welche in jene ſo be- grenzten Erſcheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee, und daher nichts weniger zu ſchaffen berufen iſt, als landſchaftliche und thieriſche Schönheit im unbefangen äſthetiſchen Sinne. Was iſt denn nun dieß Andere? Wir müſſen zuerſt zurücktreten von der Formthätigkeit der Phantaſie als ſolcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject vorausſetzten, ſo hier Volksgeiſter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie ſie ihn kennen und verſtehen, vorausſetzen. Dazu müſſen wir dann den Dualiſmus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientaliſchen Cha- rakter überhaupt aufſtellten, und zwar von dieſem zunächſt die Seite des brütenden Inſichſeins, der abſtracten Sammlung des Geiſtes. Dieſer Geiſt, der, wenn er ſich auf die Einheit der Dinge beſinnt, die Be- ſtimmtheit verliert, wird die abſolute Idee nur wie einen unendli- chen Abgrund ahnen. In dieſen Abgrund verſenkt er, wie die Be- ſtimmtheit der Natur, ſo auch die ſittlich menſchliche Beſtimmtheit, was ihm von ihr bekannt iſt, und bekannt iſt ihm das ſittliche Leben nur als ein ſolches, das ſelbſt wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat. Dieſer Abgrund iſt abſtract, aber nicht abſtract im Sinne eines logiſchen Gedankens, ſondern abſtract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin- den, dunkeln unterſcheidungsloſen Macht. Doch die abſtracte Beſinnung ſetzt allerdings auch Momente, Unterſchiede; dieſe ſind aber ſelbſt wieder abſtracte Kategorieen des Naturſeins: Sein, Werden, Vergehen, Her- vorbringen, Nähren u. ſ. w. Mit ſolchem Gehalte erfüllt geht der Menſch an die Natur, findet ſie als eine beſtimmte örtliche Umgebung vor. Nun ſcheint es, da er nur von der unbegeiſteten Natur zur Phan- taſiethätigkeit ſollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abſtracten Mo- menten paſſe dazu, mit den Exiſtenzformen des unbewußten Lebens ſich zu einem Producte der Phantaſie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu- ſammenzuſchmelzen. Allein jede Naturerſcheinung iſt individuell, iſt be- ſtimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Alſo deckt ſich nicht, was der Geiſt hinzubringt und was ihm die Naturerſcheinung entgegen- bringt; alſo kann die Phantaſie den Gegenſtand nicht innerhalb der be-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/132
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/132>, abgerufen am 29.04.2024.