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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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genug sind, um auch sie zu dieser zu zählen, wobei wir im Uebrigen
aus dem genannten Grunde der Hegelschen Ordnung folgen. Dem
Christenthum aber steht die jüdische und griechische Religion gegenüber als
ein Gegensatz, den es zu lösen hat; es mußte zum starren Monotheismus
der Juden die menschliche Nähe, den Wandel des griechischen Gottes
unter den Menschen nehmen, also beide Wege vereinigen, um zu seiner
Grund-Anschauung der Immanenz zu gelangen.

Der Polytheismus, sahen wir, ruht auf der Naturgrundlage; denn
wenn die Phantasie Natürliches unmittelbar für göttlich hält, so vereinzelt
sie nothwendig einzelne Naturkräfte, es dringen sich deren immer mehrere
als herrschend, Lebengebend auf, sie werden in Symbolen verehrt, aber
zugleich sucht die Phantasie Geister hinter ihnen und so entstehen, indem
noch weiter einzelne sittliche Bestimmungen je ihrer Verwandtschaft gemäß
auf den Naturgrund eingetragen werden, viele Götter. Die jüdische
Weltanschauung nun hebt die Naturgrundlage und mit ihr das Symbol
auf, damit fällt auch der Ausgangspunkt, der zur Göttervielheit führt. Allein
nicht hebt sie das Mythisiren, jene Personbildende Thätigkeit der Phan-
tasie auf. Sie ist die Religion eines mehr, als alle Orientalen, ethischen
Volks; dieses Volk zieht die Gesammtheit der sittlichen Kräfte, deren es
sich bewußt ist, in die Vorstellung Eines persönlichen Wesens zusammen,
das nun als absoluter Wille die Natur und den Menschen in ihr frei schafft
und diesen Gesetzgebend, erziehend leitet. Allein dieser Gott hat allerdings
in der Vorstellung und muß haben einen Leib und menschliche Neigungen,
Leidenschaften. Es heißt wohl, der Mensch solle sich kein Bild und Gleich-
niß machen von ihm; aber nur, um nicht Holz und Stein anzubeten, die
Phantasie dagegen nährt allerdings und hält fest ein Menschenbild von
ihm. Das Neue ist nur dieß, daß der Gott nicht äußerlich abgebildet
werden soll, innerlich ist er ganz anthropomorphisch abgebildet. Der Po-
lytheismus ist aufgegeben und nicht aufgegeben, seine Götter sind in Einen
zusammengegangen, aber dieser Eine hat noch wesentlich das an sich, was
den heidnischen Gott ausmacht: Menschengestalt und Succession menschlicher
Neigungen, Gedanken, Entschlüsse. Er ist der letzte Heidengott, der wider-
sprechender Weise seine Brüder überlebt. Als Reminiscenz an diese um-
gibt ihn wie Ormuzd ein Geisterheer, steht im Ariman als Teufel ge-
genüber, bezeichnen ihn symbolische Wunderthiere, fährt er auf Wetter-
wolken u. s. w. So wenig ist das Mythische in ihm aufgehoben, daß es
vielmehr gerade erst recht eingetreten ist, denn der Mythus ist erst aus-
gebildet, wo der Gott ganz Person ist und handelt. Zwar wird es in
den Mythen des Politheismus neben Acten des Handelns auch an passiven Zü-
gen nicht fehlen, welche bestimmter auf die Naturgrundlage zurückweisen; seine
Götter entwickeln sich in der Zeit, sie werden geboren, verwundet u. s. w.

genug ſind, um auch ſie zu dieſer zu zählen, wobei wir im Uebrigen
aus dem genannten Grunde der Hegelſchen Ordnung folgen. Dem
Chriſtenthum aber ſteht die jüdiſche und griechiſche Religion gegenüber als
ein Gegenſatz, den es zu löſen hat; es mußte zum ſtarren Monotheiſmus
der Juden die menſchliche Nähe, den Wandel des griechiſchen Gottes
unter den Menſchen nehmen, alſo beide Wege vereinigen, um zu ſeiner
Grund-Anſchauung der Immanenz zu gelangen.

Der Polytheiſmus, ſahen wir, ruht auf der Naturgrundlage; denn
wenn die Phantaſie Natürliches unmittelbar für göttlich hält, ſo vereinzelt
ſie nothwendig einzelne Naturkräfte, es dringen ſich deren immer mehrere
als herrſchend, Lebengebend auf, ſie werden in Symbolen verehrt, aber
zugleich ſucht die Phantaſie Geiſter hinter ihnen und ſo entſtehen, indem
noch weiter einzelne ſittliche Beſtimmungen je ihrer Verwandtſchaft gemäß
auf den Naturgrund eingetragen werden, viele Götter. Die jüdiſche
Weltanſchauung nun hebt die Naturgrundlage und mit ihr das Symbol
auf, damit fällt auch der Ausgangspunkt, der zur Göttervielheit führt. Allein
nicht hebt ſie das Mythiſiren, jene Perſonbildende Thätigkeit der Phan-
taſie auf. Sie iſt die Religion eines mehr, als alle Orientalen, ethiſchen
Volks; dieſes Volk zieht die Geſammtheit der ſittlichen Kräfte, deren es
ſich bewußt iſt, in die Vorſtellung Eines perſönlichen Weſens zuſammen,
das nun als abſoluter Wille die Natur und den Menſchen in ihr frei ſchafft
und dieſen Geſetzgebend, erziehend leitet. Allein dieſer Gott hat allerdings
in der Vorſtellung und muß haben einen Leib und menſchliche Neigungen,
Leidenſchaften. Es heißt wohl, der Menſch ſolle ſich kein Bild und Gleich-
niß machen von ihm; aber nur, um nicht Holz und Stein anzubeten, die
Phantaſie dagegen nährt allerdings und hält feſt ein Menſchenbild von
ihm. Das Neue iſt nur dieß, daß der Gott nicht äußerlich abgebildet
werden ſoll, innerlich iſt er ganz anthropomorphiſch abgebildet. Der Po-
lytheiſmus iſt aufgegeben und nicht aufgegeben, ſeine Götter ſind in Einen
zuſammengegangen, aber dieſer Eine hat noch weſentlich das an ſich, was
den heidniſchen Gott ausmacht: Menſchengeſtalt und Succeſſion menſchlicher
Neigungen, Gedanken, Entſchlüſſe. Er iſt der letzte Heidengott, der wider-
ſprechender Weiſe ſeine Brüder überlebt. Als Reminiſcenz an dieſe um-
gibt ihn wie Ormuzd ein Geiſterheer, ſteht im Ariman als Teufel ge-
genüber, bezeichnen ihn ſymboliſche Wunderthiere, fährt er auf Wetter-
wolken u. ſ. w. So wenig iſt das Mythiſche in ihm aufgehoben, daß es
vielmehr gerade erſt recht eingetreten iſt, denn der Mythus iſt erſt aus-
gebildet, wo der Gott ganz Perſon iſt und handelt. Zwar wird es in
den Mythen des Politheiſmus neben Acten des Handelns auch an paſſiven Zü-
gen nicht fehlen, welche beſtimmter auf die Naturgrundlage zurückweiſen; ſeine
Götter entwickeln ſich in der Zeit, ſie werden geboren, verwundet u. ſ. w.

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[442/0156] genug ſind, um auch ſie zu dieſer zu zählen, wobei wir im Uebrigen aus dem genannten Grunde der Hegelſchen Ordnung folgen. Dem Chriſtenthum aber ſteht die jüdiſche und griechiſche Religion gegenüber als ein Gegenſatz, den es zu löſen hat; es mußte zum ſtarren Monotheiſmus der Juden die menſchliche Nähe, den Wandel des griechiſchen Gottes unter den Menſchen nehmen, alſo beide Wege vereinigen, um zu ſeiner Grund-Anſchauung der Immanenz zu gelangen. Der Polytheiſmus, ſahen wir, ruht auf der Naturgrundlage; denn wenn die Phantaſie Natürliches unmittelbar für göttlich hält, ſo vereinzelt ſie nothwendig einzelne Naturkräfte, es dringen ſich deren immer mehrere als herrſchend, Lebengebend auf, ſie werden in Symbolen verehrt, aber zugleich ſucht die Phantaſie Geiſter hinter ihnen und ſo entſtehen, indem noch weiter einzelne ſittliche Beſtimmungen je ihrer Verwandtſchaft gemäß auf den Naturgrund eingetragen werden, viele Götter. Die jüdiſche Weltanſchauung nun hebt die Naturgrundlage und mit ihr das Symbol auf, damit fällt auch der Ausgangspunkt, der zur Göttervielheit führt. Allein nicht hebt ſie das Mythiſiren, jene Perſonbildende Thätigkeit der Phan- taſie auf. Sie iſt die Religion eines mehr, als alle Orientalen, ethiſchen Volks; dieſes Volk zieht die Geſammtheit der ſittlichen Kräfte, deren es ſich bewußt iſt, in die Vorſtellung Eines perſönlichen Weſens zuſammen, das nun als abſoluter Wille die Natur und den Menſchen in ihr frei ſchafft und dieſen Geſetzgebend, erziehend leitet. Allein dieſer Gott hat allerdings in der Vorſtellung und muß haben einen Leib und menſchliche Neigungen, Leidenſchaften. Es heißt wohl, der Menſch ſolle ſich kein Bild und Gleich- niß machen von ihm; aber nur, um nicht Holz und Stein anzubeten, die Phantaſie dagegen nährt allerdings und hält feſt ein Menſchenbild von ihm. Das Neue iſt nur dieß, daß der Gott nicht äußerlich abgebildet werden ſoll, innerlich iſt er ganz anthropomorphiſch abgebildet. Der Po- lytheiſmus iſt aufgegeben und nicht aufgegeben, ſeine Götter ſind in Einen zuſammengegangen, aber dieſer Eine hat noch weſentlich das an ſich, was den heidniſchen Gott ausmacht: Menſchengeſtalt und Succeſſion menſchlicher Neigungen, Gedanken, Entſchlüſſe. Er iſt der letzte Heidengott, der wider- ſprechender Weiſe ſeine Brüder überlebt. Als Reminiſcenz an dieſe um- gibt ihn wie Ormuzd ein Geiſterheer, ſteht im Ariman als Teufel ge- genüber, bezeichnen ihn ſymboliſche Wunderthiere, fährt er auf Wetter- wolken u. ſ. w. So wenig iſt das Mythiſche in ihm aufgehoben, daß es vielmehr gerade erſt recht eingetreten iſt, denn der Mythus iſt erſt aus- gebildet, wo der Gott ganz Perſon iſt und handelt. Zwar wird es in den Mythen des Politheiſmus neben Acten des Handelns auch an paſſiven Zü- gen nicht fehlen, welche beſtimmter auf die Naturgrundlage zurückweiſen; ſeine Götter entwickeln ſich in der Zeit, ſie werden geboren, verwundet u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/156>, abgerufen am 15.05.2024.