Flüchtigkeit fassen. Bald ist die Persönlichkeit vom vollen Bewußtsein ihres sittlichen Zweckes erfüllt, erscheint ganz als sie selbst und ist schön im tiefsten Sinne des Worts; bald aber treibt sie etwas, was nur mittel- bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge- halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt, wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck verschüttet liegt. So ist es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten, mögen sie dem sittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles an diesem Pferde, die Ohren sind gespitzt, der Hals richtet sich auf und biegt sich schlank, wie belebter Stahl, die Nüster schnauben, die Augen sprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im nächsten Augenblick läßt es Alles hängen. Diese Gruppe kämpfender Krieger bewegt und baut sich, als wäre sie vom flammenden Kriegsgott befeuert, aber im nächsten Augenblicke ist sie zerstoben oder werden die Bewegungen unschön, rafft fernes Geschoß den Muthigsten weg. Diese Krieger sind ja kein tableau vivant; sie stehen nicht unserem Auge Modell, was sie wollen, ist der Kampf, nicht seine Erscheinung. So sehr ist das Nichtgewolltsein Wesen des Naturschönen, daß nichts widerlicher ist, als wenn in seiner Sphäre eine Absicht auf das Schöne als solches sichtbar ist. Schönheit, die von sich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel einstudirt ist, ist eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im Sein ist das Gegentheil der wahren Grazie und es wird sich zeigen, daß in der Kunst, welche umgekehrt das Schöne mit Absicht hervorbringt, diese Unabsichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne sich fortbehaupten muß: als Ausdruck der Unabsichtlichkeit eben im dargestellten Gegenstande, denn dieser verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm ansieht, daß er auch vor und außer diesem Verhältniß zum Zuschauer es auf diese Wirkung berech- net habe und um sich wisse; ferner als Unabsichtlichkeit in der Absicht des Künstlers selbst, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwissen um sich ist so sehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturschönen, daß in der Sphäre, wo Bewußtsein ist, das Schöne in dem Momente zu Grund geht, wo es gesehen wird, wo man ihm sagt, daß es schön sei, wo es sich im Spiegel sieht. Sobald die Naturvölker von der modernen Civilisation entdeckt werden, ist es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks- lieder verschwinden, wenn man sie sammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit nicht so schön vor, wie der kokette Frack des Malers, der sie um jene beneidet und gekommen ist, sie zu studiren; nimmt die Civilisation sie auf und sucht sie zu befestigen, z. B. als Uniform, wie die ungarische, bergschottische Tracht, so nützt das nichts, sie ist bereits Maske geworden und das Volk selbst gibt sie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der
Flüchtigkeit faſſen. Bald iſt die Perſönlichkeit vom vollen Bewußtſein ihres ſittlichen Zweckes erfüllt, erſcheint ganz als ſie ſelbſt und iſt ſchön im tiefſten Sinne des Worts; bald aber treibt ſie etwas, was nur mittel- bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge- halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt, wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck verſchüttet liegt. So iſt es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten, mögen ſie dem ſittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles an dieſem Pferde, die Ohren ſind geſpitzt, der Hals richtet ſich auf und biegt ſich ſchlank, wie belebter Stahl, die Nüſter ſchnauben, die Augen ſprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im nächſten Augenblick läßt es Alles hängen. Dieſe Gruppe kämpfender Krieger bewegt und baut ſich, als wäre ſie vom flammenden Kriegsgott befeuert, aber im nächſten Augenblicke iſt ſie zerſtoben oder werden die Bewegungen unſchön, rafft fernes Geſchoß den Muthigſten weg. Dieſe Krieger ſind ja kein tableau vivant; ſie ſtehen nicht unſerem Auge Modell, was ſie wollen, iſt der Kampf, nicht ſeine Erſcheinung. So ſehr iſt das Nichtgewolltſein Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als wenn in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt. Schönheit, die von ſich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel einſtudirt iſt, iſt eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im Sein iſt das Gegentheil der wahren Grazie und es wird ſich zeigen, daß in der Kunſt, welche umgekehrt das Schöne mit Abſicht hervorbringt, dieſe Unabſichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne ſich fortbehaupten muß: als Ausdruck der Unabſichtlichkeit eben im dargeſtellten Gegenſtande, denn dieſer verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm anſieht, daß er auch vor und außer dieſem Verhältniß zum Zuſchauer es auf dieſe Wirkung berech- net habe und um ſich wiſſe; ferner als Unabſichtlichkeit in der Abſicht des Künſtlers ſelbſt, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwiſſen um ſich iſt ſo ſehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturſchönen, daß in der Sphäre, wo Bewußtſein iſt, das Schöne in dem Momente zu Grund geht, wo es geſehen wird, wo man ihm ſagt, daß es ſchön ſei, wo es ſich im Spiegel ſieht. Sobald die Naturvölker von der modernen Civiliſation entdeckt werden, iſt es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks- lieder verſchwinden, wenn man ſie ſammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit nicht ſo ſchön vor, wie der kokette Frack des Malers, der ſie um jene beneidet und gekommen iſt, ſie zu ſtudiren; nimmt die Civiliſation ſie auf und ſucht ſie zu befeſtigen, z. B. als Uniform, wie die ungariſche, bergſchottiſche Tracht, ſo nützt das nichts, ſie iſt bereits Maſke geworden und das Volk ſelbſt gibt ſie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der
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Flüchtigkeit faſſen. Bald iſt die Perſönlichkeit vom vollen Bewußtſein
ihres ſittlichen Zweckes erfüllt, erſcheint ganz als ſie ſelbſt und iſt ſchön
im tiefſten Sinne des Worts; bald aber treibt ſie etwas, was nur mittel-
bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge-
halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt,
wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck
verſchüttet liegt. So iſt es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten,
mögen ſie dem ſittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles
an dieſem Pferde, die Ohren ſind geſpitzt, der Hals richtet ſich auf und
biegt ſich ſchlank, wie belebter Stahl, die Nüſter ſchnauben, die Augen
ſprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im
nächſten Augenblick läßt es Alles hängen. Dieſe Gruppe kämpfender
Krieger bewegt und baut ſich, als wäre ſie vom flammenden Kriegsgott
befeuert, aber im nächſten Augenblicke iſt ſie zerſtoben oder werden die
Bewegungen unſchön, rafft fernes Geſchoß den Muthigſten weg. Dieſe
Krieger ſind ja kein tableau vivant; ſie ſtehen nicht unſerem Auge Modell,
was ſie wollen, iſt der Kampf, nicht ſeine Erſcheinung. So ſehr iſt das
Nichtgewolltſein Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als
wenn in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.
Schönheit, die von ſich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel
einſtudirt iſt, iſt eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im
Sein iſt das Gegentheil der wahren Grazie und es wird ſich zeigen, daß
in der Kunſt, welche umgekehrt das Schöne mit Abſicht hervorbringt, dieſe
Unabſichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne ſich fortbehaupten muß: als
Ausdruck der Unabſichtlichkeit eben im dargeſtellten Gegenſtande, denn dieſer
verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm anſieht, daß er auch vor
und außer dieſem Verhältniß zum Zuſchauer es auf dieſe Wirkung berech-
net habe und um ſich wiſſe; ferner als Unabſichtlichkeit in der Abſicht
des Künſtlers ſelbſt, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des
bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwiſſen um ſich iſt
ſo ſehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturſchönen, daß
in der Sphäre, wo Bewußtſein iſt, das Schöne in dem Momente zu
Grund geht, wo es geſehen wird, wo man ihm ſagt, daß es ſchön ſei,
wo es ſich im Spiegel ſieht. Sobald die Naturvölker von der modernen
Civiliſation entdeckt werden, iſt es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks-
lieder verſchwinden, wenn man ſie ſammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit
nicht ſo ſchön vor, wie der kokette Frack des Malers, der ſie um jene
beneidet und gekommen iſt, ſie zu ſtudiren; nimmt die Civiliſation ſie
auf und ſucht ſie zu befeſtigen, z. B. als Uniform, wie die ungariſche,
bergſchottiſche Tracht, ſo nützt das nichts, ſie iſt bereits Maſke geworden
und das Volk ſelbſt gibt ſie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/17>, abgerufen am 08.12.2023.
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