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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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rechtes Gesetz zu begreifen, Versteckens spielend und dadurch doppelt
schauerlich. Hätten die Griechen erkannt, daß der Mensch in sich selbst
durch seinen Willen und Entschluß den Zufall des Gegebenen aufzuheben
hat, so hätten sie auch das Schicksal, das Gesammtgesetz in dem Willen
der Einzelnen, als eine den Zufall stets vorausschickende und stets in die
sittliche Weltordnung aufhebende Macht begriffen. Nun aber waren sie
zu sehr Natur, um schließlich in schwierigen Fällen den Entschluß aus
sich zu nehmen; sie warfen das freie Ich hinüber in die Götter, von
diesen in das Schicksal und ließen sich durch Zeichen und Orakel den
eigenen Entschluß als fremden Rath herüberreichen; der Zufall des Be-
stimmtseins von außen durch die Umstände, von innen durch Anlage, er-
erbtes Temperament u. s. w. fand in ihnen selbst nicht reinen Abschluß
im denkenden Bewußtsein und Willen. Warfen sie nun ihr innerstes Ich
in ein Jenseits hinüber als Schicksal, so warfen sie mit ihm diesen un-
gelösten Bruch zwischen Naturbedingung und Wollen in dasselbe hinüber;
das Schicksal ist daher halb sittliches Gesetz, halb aber, im Hintergrund,
Naturmacht, welche verderblichen Zufall schickt, der nicht in sittlichen Zu-
hammenhang aufgeht, sich nicht löst: die tragische Versöhnung bleibt un-
vollständig, wie die Schuld keine reine ist.

2. Selbst Aristophanes bleibt auf der Grundlage der Posse, ob er
sich gleich, an die Grenze der Auflösung des griechischen Lebens gestellt, die
wir sofort besonders zu erwähnen haben, in eine viel höhere Komik erhebt;
im Witze ist es der bildliche, der dieser Phantasie vorzüglich entspricht.
Es ist klar, daß auch im Komischen nicht die feinverborgenen Irrwege,
nicht die Widersprüche eines zerrissenen Gemüths an Tag treten können,
da solche noch gar nicht an der Zeit sind; die Widersprüche und Risse des
öffentlichen Lebens dagegen, welche handgreiflich erscheinen, kann schon die
Posse darstellen. Wie weit nun aber das Komische verhältnißmäßig auch
gehen mag, an ihm wird sich vorzüglich bewähren, was zum vorh. §.
über die Einschränkung des Unschönen in diesem Ideale gesagt ist; zunächst
jedenfalls in der eigentlich bildenden Phantasie. Am vollsten ist die Ko-
mik im Kreise des Dionysos, aber auch hier, wie sanft gedämpft ist das
Gemeine, wie edel noch das Niedrige, welche süße und heimliche Wehmuth
im Ueberschwang der Lust geht durch diese muthwilligen Schaaren! Sie
sind traurig vor lauter Schönheit. In der dichtenden Phantasie nun frei-
lich wird es zur kecken Fratze, zum unbändigen Muthwillen kommen, der
sogar, was ein Widerspruch gegen unsere Behauptungen scheint, dem
Cynischen einen unglaublichen Spielraum gestattet. Allein das Cynische
ist immer noch viel unschuldiger, als alles innerlich Verzerrte und Zerrissene:
dieses und seine äußere Erscheinung wäre vielmehr den Griechen schamlos
erschienen. Die häßliche Persönlichkeit selbst und ihre fratzenhafte Gestalt

rechtes Geſetz zu begreifen, Verſteckens ſpielend und dadurch doppelt
ſchauerlich. Hätten die Griechen erkannt, daß der Menſch in ſich ſelbſt
durch ſeinen Willen und Entſchluß den Zufall des Gegebenen aufzuheben
hat, ſo hätten ſie auch das Schickſal, das Geſammtgeſetz in dem Willen
der Einzelnen, als eine den Zufall ſtets vorausſchickende und ſtets in die
ſittliche Weltordnung aufhebende Macht begriffen. Nun aber waren ſie
zu ſehr Natur, um ſchließlich in ſchwierigen Fällen den Entſchluß aus
ſich zu nehmen; ſie warfen das freie Ich hinüber in die Götter, von
dieſen in das Schickſal und ließen ſich durch Zeichen und Orakel den
eigenen Entſchluß als fremden Rath herüberreichen; der Zufall des Be-
ſtimmtſeins von außen durch die Umſtände, von innen durch Anlage, er-
erbtes Temperament u. ſ. w. fand in ihnen ſelbſt nicht reinen Abſchluß
im denkenden Bewußtſein und Willen. Warfen ſie nun ihr innerſtes Ich
in ein Jenſeits hinüber als Schickſal, ſo warfen ſie mit ihm dieſen un-
gelösten Bruch zwiſchen Naturbedingung und Wollen in daſſelbe hinüber;
das Schickſal iſt daher halb ſittliches Geſetz, halb aber, im Hintergrund,
Naturmacht, welche verderblichen Zufall ſchickt, der nicht in ſittlichen Zu-
hammenhang aufgeht, ſich nicht löst: die tragiſche Verſöhnung bleibt un-
vollſtändig, wie die Schuld keine reine iſt.

2. Selbſt Ariſtophanes bleibt auf der Grundlage der Poſſe, ob er
ſich gleich, an die Grenze der Auflöſung des griechiſchen Lebens geſtellt, die
wir ſofort beſonders zu erwähnen haben, in eine viel höhere Komik erhebt;
im Witze iſt es der bildliche, der dieſer Phantaſie vorzüglich entſpricht.
Es iſt klar, daß auch im Komiſchen nicht die feinverborgenen Irrwege,
nicht die Widerſprüche eines zerriſſenen Gemüths an Tag treten können,
da ſolche noch gar nicht an der Zeit ſind; die Widerſprüche und Riſſe des
öffentlichen Lebens dagegen, welche handgreiflich erſcheinen, kann ſchon die
Poſſe darſtellen. Wie weit nun aber das Komiſche verhältnißmäßig auch
gehen mag, an ihm wird ſich vorzüglich bewähren, was zum vorh. §.
über die Einſchränkung des Unſchönen in dieſem Ideale geſagt iſt; zunächſt
jedenfalls in der eigentlich bildenden Phantaſie. Am vollſten iſt die Ko-
mik im Kreiſe des Dionyſos, aber auch hier, wie ſanft gedämpft iſt das
Gemeine, wie edel noch das Niedrige, welche ſüße und heimliche Wehmuth
im Ueberſchwang der Luſt geht durch dieſe muthwilligen Schaaren! Sie
ſind traurig vor lauter Schönheit. In der dichtenden Phantaſie nun frei-
lich wird es zur kecken Fratze, zum unbändigen Muthwillen kommen, der
ſogar, was ein Widerſpruch gegen unſere Behauptungen ſcheint, dem
Cyniſchen einen unglaublichen Spielraum geſtattet. Allein das Cyniſche
iſt immer noch viel unſchuldiger, als alles innerlich Verzerrte und Zerriſſene:
dieſes und ſeine äußere Erſcheinung wäre vielmehr den Griechen ſchamlos
erſchienen. Die häßliche Perſönlichkeit ſelbſt und ihre fratzenhafte Geſtalt

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[464/0178] rechtes Geſetz zu begreifen, Verſteckens ſpielend und dadurch doppelt ſchauerlich. Hätten die Griechen erkannt, daß der Menſch in ſich ſelbſt durch ſeinen Willen und Entſchluß den Zufall des Gegebenen aufzuheben hat, ſo hätten ſie auch das Schickſal, das Geſammtgeſetz in dem Willen der Einzelnen, als eine den Zufall ſtets vorausſchickende und ſtets in die ſittliche Weltordnung aufhebende Macht begriffen. Nun aber waren ſie zu ſehr Natur, um ſchließlich in ſchwierigen Fällen den Entſchluß aus ſich zu nehmen; ſie warfen das freie Ich hinüber in die Götter, von dieſen in das Schickſal und ließen ſich durch Zeichen und Orakel den eigenen Entſchluß als fremden Rath herüberreichen; der Zufall des Be- ſtimmtſeins von außen durch die Umſtände, von innen durch Anlage, er- erbtes Temperament u. ſ. w. fand in ihnen ſelbſt nicht reinen Abſchluß im denkenden Bewußtſein und Willen. Warfen ſie nun ihr innerſtes Ich in ein Jenſeits hinüber als Schickſal, ſo warfen ſie mit ihm dieſen un- gelösten Bruch zwiſchen Naturbedingung und Wollen in daſſelbe hinüber; das Schickſal iſt daher halb ſittliches Geſetz, halb aber, im Hintergrund, Naturmacht, welche verderblichen Zufall ſchickt, der nicht in ſittlichen Zu- hammenhang aufgeht, ſich nicht löst: die tragiſche Verſöhnung bleibt un- vollſtändig, wie die Schuld keine reine iſt. 2. Selbſt Ariſtophanes bleibt auf der Grundlage der Poſſe, ob er ſich gleich, an die Grenze der Auflöſung des griechiſchen Lebens geſtellt, die wir ſofort beſonders zu erwähnen haben, in eine viel höhere Komik erhebt; im Witze iſt es der bildliche, der dieſer Phantaſie vorzüglich entſpricht. Es iſt klar, daß auch im Komiſchen nicht die feinverborgenen Irrwege, nicht die Widerſprüche eines zerriſſenen Gemüths an Tag treten können, da ſolche noch gar nicht an der Zeit ſind; die Widerſprüche und Riſſe des öffentlichen Lebens dagegen, welche handgreiflich erſcheinen, kann ſchon die Poſſe darſtellen. Wie weit nun aber das Komiſche verhältnißmäßig auch gehen mag, an ihm wird ſich vorzüglich bewähren, was zum vorh. §. über die Einſchränkung des Unſchönen in dieſem Ideale geſagt iſt; zunächſt jedenfalls in der eigentlich bildenden Phantaſie. Am vollſten iſt die Ko- mik im Kreiſe des Dionyſos, aber auch hier, wie ſanft gedämpft iſt das Gemeine, wie edel noch das Niedrige, welche ſüße und heimliche Wehmuth im Ueberſchwang der Luſt geht durch dieſe muthwilligen Schaaren! Sie ſind traurig vor lauter Schönheit. In der dichtenden Phantaſie nun frei- lich wird es zur kecken Fratze, zum unbändigen Muthwillen kommen, der ſogar, was ein Widerſpruch gegen unſere Behauptungen ſcheint, dem Cyniſchen einen unglaublichen Spielraum geſtattet. Allein das Cyniſche iſt immer noch viel unſchuldiger, als alles innerlich Verzerrte und Zerriſſene: dieſes und ſeine äußere Erſcheinung wäre vielmehr den Griechen ſchamlos erſchienen. Die häßliche Perſönlichkeit ſelbſt und ihre fratzenhafte Geſtalt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/178>, abgerufen am 04.05.2024.