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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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sondern auch dadurch der Phantasie vor, daß sie ihren Gegenstand herausgreift
und ihn dem Subjecte zugleich klar gegenüberstellt und kräftig aneignet.

Aus der Psychologie wird als bekannt vorausgesetzt, wie sich die An-
schauung von der sinnlichen Wahrnehmung als Erfassung, Apperzeption
unterscheidet und was sie überhaupt ist. Allerdings wird gefordert, daß
schon die sinnliche Wahrnehmung eine gesunde und volle sei; nicht ganz
leicht aber ist die Entscheidung über die speziellere Frage, ob gut Sehen,
fein Fühlen, gut Hören, im physischen Sinn, eine Bedingung der Phan-
tasie sei. Ein großer Vorsprung wird Schärfe dieser Sinne immer sein,
wiewohl natürlich, wer sie besitzt, darum noch nicht für die Phantasie or-
ganisirt ist. Ungleich wichtiger aber und unentbehrliche Vorbedingung der
Phantasie ist das Formen-Ergreifen und Umspannen im Sehen, Fühlen,
Hören, was wir zunächst ganz allgemein ein Messen nennen wollen. Wer
nicht bemerkt, daß jener Vorübergehende so oder so gebaut ist, solchen oder
andern Gang hat, wer eine Farbenwirkung nicht schnell erfaßt, wer Klang
und Ton der Menschenstimme, das Sprechende und die Klangverhältnisse
in den Naturtönen nicht heraushört, ist für die Phantasie verloren. Der
Tastsinn ist hier im Sinne von § 71 Anm. miteingeschlossen, allerdings
soll er aber auch in seiner eigentlichen Bedeutung sammt Geschmack und
Geruch, wiewohl diese Sinne nur mittelbar bei dem Schönen betheiligt
sind, frisch und lebhaft seyn; wer für Reinheit oder Unreinheit umge-
bender Luft, für Duft und Wohlgeruch, wer für die feinen Unterschiede
des Geschmacks, wer für warm und kalt, fein und rauh, rund und eckig
u. s. w. keine Fühlfäden hat, ist ebenfalls für die Phantasie verloren.
Eine ganze und volle Sinnlichkeit ist Vorbedingung und Grund-
lage derselben. Die Offenheit der einzelnen Sinne liegt natürlich bereits
tiefer, als blos in der glücklichen Organisation ihrer bestimmten Organe,
es ist Gesundheit und Erregbarkeit des allgemeinen Nervenlebens und
seines unmittelbaren Reflexes im Selbstgefühle. Nichts stumpft dieß Sen-
sorium mehr ab, als unser nordisches Stubenleben; man muß hier ver-
suchen, sich in die Knabenzeit zurückzuversetzen, den offenen Nerv für Duft
des Waldes, neue Thiergestalten, die Verwunderung bei dem Anblick des
Rehs, des Raubvogels sich vergegenwärtigen. Eine solche Verwunderung
über die Frische, Fülle, Neuheit der Erscheinung ist nun aber bereits An-
schauung. Diese ist mehr, als alles bisher Genannte: sie ist der Act
der Ergreifung durch die Aufmerksamkeit, wodurch das Angeschaute in ver-
schärften Umrissen von seiner Umgebung wie von einem Hintergrund ab-
gehoben und dem Anschauenden zugleich Eigenthum und zugleich gegen-
ständlich klar gegenübergestellt wird; sie ist der Augenblick, wo Gegenstand
und Ich wie Eisen und Magnet zusammenschießen, aber auch eben durch

ſondern auch dadurch der Phantaſie vor, daß ſie ihren Gegenſtand herausgreift
und ihn dem Subjecte zugleich klar gegenüberſtellt und kräftig aneignet.

Aus der Pſychologie wird als bekannt vorausgeſetzt, wie ſich die An-
ſchauung von der ſinnlichen Wahrnehmung als Erfaſſung, Apperzeption
unterſcheidet und was ſie überhaupt iſt. Allerdings wird gefordert, daß
ſchon die ſinnliche Wahrnehmung eine geſunde und volle ſei; nicht ganz
leicht aber iſt die Entſcheidung über die ſpeziellere Frage, ob gut Sehen,
fein Fühlen, gut Hören, im phyſiſchen Sinn, eine Bedingung der Phan-
taſie ſei. Ein großer Vorſprung wird Schärfe dieſer Sinne immer ſein,
wiewohl natürlich, wer ſie beſitzt, darum noch nicht für die Phantaſie or-
ganiſirt iſt. Ungleich wichtiger aber und unentbehrliche Vorbedingung der
Phantaſie iſt das Formen-Ergreifen und Umſpannen im Sehen, Fühlen,
Hören, was wir zunächſt ganz allgemein ein Meſſen nennen wollen. Wer
nicht bemerkt, daß jener Vorübergehende ſo oder ſo gebaut iſt, ſolchen oder
andern Gang hat, wer eine Farbenwirkung nicht ſchnell erfaßt, wer Klang
und Ton der Menſchenſtimme, das Sprechende und die Klangverhältniſſe
in den Naturtönen nicht heraushört, iſt für die Phantaſie verloren. Der
Taſtſinn iſt hier im Sinne von § 71 Anm. miteingeſchloſſen, allerdings
ſoll er aber auch in ſeiner eigentlichen Bedeutung ſammt Geſchmack und
Geruch, wiewohl dieſe Sinne nur mittelbar bei dem Schönen betheiligt
ſind, friſch und lebhaft ſeyn; wer für Reinheit oder Unreinheit umge-
bender Luft, für Duft und Wohlgeruch, wer für die feinen Unterſchiede
des Geſchmacks, wer für warm und kalt, fein und rauh, rund und eckig
u. ſ. w. keine Fühlfäden hat, iſt ebenfalls für die Phantaſie verloren.
Eine ganze und volle Sinnlichkeit iſt Vorbedingung und Grund-
lage derſelben. Die Offenheit der einzelnen Sinne liegt natürlich bereits
tiefer, als blos in der glücklichen Organiſation ihrer beſtimmten Organe,
es iſt Geſundheit und Erregbarkeit des allgemeinen Nervenlebens und
ſeines unmittelbaren Reflexes im Selbſtgefühle. Nichts ſtumpft dieß Sen-
ſorium mehr ab, als unſer nordiſches Stubenleben; man muß hier ver-
ſuchen, ſich in die Knabenzeit zurückzuverſetzen, den offenen Nerv für Duft
des Waldes, neue Thiergeſtalten, die Verwunderung bei dem Anblick des
Rehs, des Raubvogels ſich vergegenwärtigen. Eine ſolche Verwunderung
über die Friſche, Fülle, Neuheit der Erſcheinung iſt nun aber bereits An-
ſchauung. Dieſe iſt mehr, als alles bisher Genannte: ſie iſt der Act
der Ergreifung durch die Aufmerkſamkeit, wodurch das Angeſchaute in ver-
ſchärften Umriſſen von ſeiner Umgebung wie von einem Hintergrund ab-
gehoben und dem Anſchauenden zugleich Eigenthum und zugleich gegen-
ſtändlich klar gegenübergeſtellt wird; ſie iſt der Augenblick, wo Gegenſtand
und Ich wie Eiſen und Magnet zuſammenſchießen, aber auch eben durch

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[316/0030] ſondern auch dadurch der Phantaſie vor, daß ſie ihren Gegenſtand herausgreift und ihn dem Subjecte zugleich klar gegenüberſtellt und kräftig aneignet. Aus der Pſychologie wird als bekannt vorausgeſetzt, wie ſich die An- ſchauung von der ſinnlichen Wahrnehmung als Erfaſſung, Apperzeption unterſcheidet und was ſie überhaupt iſt. Allerdings wird gefordert, daß ſchon die ſinnliche Wahrnehmung eine geſunde und volle ſei; nicht ganz leicht aber iſt die Entſcheidung über die ſpeziellere Frage, ob gut Sehen, fein Fühlen, gut Hören, im phyſiſchen Sinn, eine Bedingung der Phan- taſie ſei. Ein großer Vorſprung wird Schärfe dieſer Sinne immer ſein, wiewohl natürlich, wer ſie beſitzt, darum noch nicht für die Phantaſie or- ganiſirt iſt. Ungleich wichtiger aber und unentbehrliche Vorbedingung der Phantaſie iſt das Formen-Ergreifen und Umſpannen im Sehen, Fühlen, Hören, was wir zunächſt ganz allgemein ein Meſſen nennen wollen. Wer nicht bemerkt, daß jener Vorübergehende ſo oder ſo gebaut iſt, ſolchen oder andern Gang hat, wer eine Farbenwirkung nicht ſchnell erfaßt, wer Klang und Ton der Menſchenſtimme, das Sprechende und die Klangverhältniſſe in den Naturtönen nicht heraushört, iſt für die Phantaſie verloren. Der Taſtſinn iſt hier im Sinne von § 71 Anm. miteingeſchloſſen, allerdings ſoll er aber auch in ſeiner eigentlichen Bedeutung ſammt Geſchmack und Geruch, wiewohl dieſe Sinne nur mittelbar bei dem Schönen betheiligt ſind, friſch und lebhaft ſeyn; wer für Reinheit oder Unreinheit umge- bender Luft, für Duft und Wohlgeruch, wer für die feinen Unterſchiede des Geſchmacks, wer für warm und kalt, fein und rauh, rund und eckig u. ſ. w. keine Fühlfäden hat, iſt ebenfalls für die Phantaſie verloren. Eine ganze und volle Sinnlichkeit iſt Vorbedingung und Grund- lage derſelben. Die Offenheit der einzelnen Sinne liegt natürlich bereits tiefer, als blos in der glücklichen Organiſation ihrer beſtimmten Organe, es iſt Geſundheit und Erregbarkeit des allgemeinen Nervenlebens und ſeines unmittelbaren Reflexes im Selbſtgefühle. Nichts ſtumpft dieß Sen- ſorium mehr ab, als unſer nordiſches Stubenleben; man muß hier ver- ſuchen, ſich in die Knabenzeit zurückzuverſetzen, den offenen Nerv für Duft des Waldes, neue Thiergeſtalten, die Verwunderung bei dem Anblick des Rehs, des Raubvogels ſich vergegenwärtigen. Eine ſolche Verwunderung über die Friſche, Fülle, Neuheit der Erſcheinung iſt nun aber bereits An- ſchauung. Dieſe iſt mehr, als alles bisher Genannte: ſie iſt der Act der Ergreifung durch die Aufmerkſamkeit, wodurch das Angeſchaute in ver- ſchärften Umriſſen von ſeiner Umgebung wie von einem Hintergrund ab- gehoben und dem Anſchauenden zugleich Eigenthum und zugleich gegen- ſtändlich klar gegenübergeſtellt wird; ſie iſt der Augenblick, wo Gegenſtand und Ich wie Eiſen und Magnet zuſammenſchießen, aber auch eben durch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/30>, abgerufen am 29.04.2024.