1. Es entstehen aus diesem Eintheilungsgrunde sowohl Einseitigkeiten und Verirrungen der Phantasie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen- der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn sie nicht mehr, als dieß, sein wollen. Beide Formen, sowohl die Mängel und Unarten, Aus- artungen, als auch die Abarten werden hier nur erst in der allge- meinsten Weise gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber, welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt sind, lassen wir uns hier nicht ein, sie können ihre nähere Darstellung erst in der Lehre von den Künsten und ihrer Geschichte finden.
2. Die erste Einseitigkeit entsteht, wenn das Bild der Einbildungskraft auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geist so eben noch von der An- schauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des Naturschönen hat. Der Phantasie, die auf starker und strenger Anschau- ung ruht, liegt Realität auf Kosten der Idealität nahe; es gibt aber bis herab zum gemeinen Copisten der Natur der Abstufungen viele. Wir haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber darum den Ausdruck Realismus nicht gewählt. Was man so nennt, ge- hört in die Geschichte des Ideals. Zugleich sammelt der reiche Beobachter der Natur viel, er ist fruchtbar in Massen, aber es fehlt ihnen die in- nere Einheit. Ebendieß findet zunächst statt, wo sich die Phantasie im Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß drängt sich Bild an Bild in regelloser Fülle, es entsteht üppige, breite Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beispiele der Ueberschwängerung mit Fabeln, Figuren, Beschreibungen bietet die Kunstgeschichte in Menge, wir fänden aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf einlassen wollten. Ariost z. B. steht nahe an der Schwelle der Ausar- tung, die meisten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil- der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unsteten Vermischungen: herrscht dieß Moment, so entsteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene. Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö- nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, musikalisches Phan- tasiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen stoffartig: sinnliche, unfrei leidenschaftliche Phantasie. Es gibt eine doppelte Sinn- lichkeit der so auf das Stoffartige der Einbildungskraft gestellten Phantasie: die frische und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche, onanistische; aber auch die erstere ist Verirrung, denn es fixirt sich ein Mo- ment, das in die Interesselosigkeit der Objectivität aufgehoben werden sollte (Heinse). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher Grund.
3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Substantialität der Persönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede
1. Es entſtehen aus dieſem Eintheilungsgrunde ſowohl Einſeitigkeiten und Verirrungen der Phantaſie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen- der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn ſie nicht mehr, als dieß, ſein wollen. Beide Formen, ſowohl die Mängel und Unarten, Aus- artungen, als auch die Abarten werden hier nur erſt in der allge- meinſten Weiſe gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber, welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt ſind, laſſen wir uns hier nicht ein, ſie können ihre nähere Darſtellung erſt in der Lehre von den Künſten und ihrer Geſchichte finden.
2. Die erſte Einſeitigkeit entſteht, wenn das Bild der Einbildungskraft auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geiſt ſo eben noch von der An- ſchauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des Naturſchönen hat. Der Phantaſie, die auf ſtarker und ſtrenger Anſchau- ung ruht, liegt Realität auf Koſten der Idealität nahe; es gibt aber bis herab zum gemeinen Copiſten der Natur der Abſtufungen viele. Wir haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber darum den Ausdruck Realiſmus nicht gewählt. Was man ſo nennt, ge- hört in die Geſchichte des Ideals. Zugleich ſammelt der reiche Beobachter der Natur viel, er iſt fruchtbar in Maſſen, aber es fehlt ihnen die in- nere Einheit. Ebendieß findet zunächſt ſtatt, wo ſich die Phantaſie im Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß drängt ſich Bild an Bild in regelloſer Fülle, es entſteht üppige, breite Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beiſpiele der Ueberſchwängerung mit Fabeln, Figuren, Beſchreibungen bietet die Kunſtgeſchichte in Menge, wir fänden aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf einlaſſen wollten. Arioſt z. B. ſteht nahe an der Schwelle der Ausar- tung, die meiſten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil- der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unſteten Vermiſchungen: herrſcht dieß Moment, ſo entſteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene. Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö- nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, muſikaliſches Phan- taſiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen ſtoffartig: ſinnliche, unfrei leidenſchaftliche Phantaſie. Es gibt eine doppelte Sinn- lichkeit der ſo auf das Stoffartige der Einbildungskraft geſtellten Phantaſie: die friſche und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche, onaniſtiſche; aber auch die erſtere iſt Verirrung, denn es fixirt ſich ein Mo- ment, das in die Intereſſeloſigkeit der Objectivität aufgehoben werden ſollte (Heinſe). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher Grund.
3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Subſtantialität der Perſönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede
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1. Es entſtehen aus dieſem Eintheilungsgrunde ſowohl Einſeitigkeiten
und Verirrungen der Phantaſie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen-
der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn ſie nicht mehr, als dieß,
ſein wollen. Beide Formen, ſowohl die Mängel und Unarten, Aus-
artungen, als auch die Abarten werden hier nur erſt in der allge-
meinſten Weiſe gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber,
welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt ſind, laſſen wir uns
hier nicht ein, ſie können ihre nähere Darſtellung erſt in der Lehre von
den Künſten und ihrer Geſchichte finden.
2. Die erſte Einſeitigkeit entſteht, wenn das Bild der Einbildungskraft
auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geiſt ſo eben noch von der An-
ſchauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des
Naturſchönen hat. Der Phantaſie, die auf ſtarker und ſtrenger Anſchau-
ung ruht, liegt Realität auf Koſten der Idealität nahe; es gibt aber
bis herab zum gemeinen Copiſten der Natur der Abſtufungen viele. Wir
haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber
darum den Ausdruck Realiſmus nicht gewählt. Was man ſo nennt, ge-
hört in die Geſchichte des Ideals. Zugleich ſammelt der reiche Beobachter
der Natur viel, er iſt fruchtbar in Maſſen, aber es fehlt ihnen die in-
nere Einheit. Ebendieß findet zunächſt ſtatt, wo ſich die Phantaſie im
Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß
drängt ſich Bild an Bild in regelloſer Fülle, es entſteht üppige, breite
Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beiſpiele der Ueberſchwängerung mit Fabeln,
Figuren, Beſchreibungen bietet die Kunſtgeſchichte in Menge, wir fänden
aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf
einlaſſen wollten. Arioſt z. B. ſteht nahe an der Schwelle der Ausar-
tung, die meiſten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil-
der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unſteten Vermiſchungen:
herrſcht dieß Moment, ſo entſteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene.
Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö-
nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, muſikaliſches Phan-
taſiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen ſtoffartig:
ſinnliche, unfrei leidenſchaftliche Phantaſie. Es gibt eine doppelte Sinn-
lichkeit der ſo auf das Stoffartige der Einbildungskraft geſtellten Phantaſie:
die friſche und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche,
onaniſtiſche; aber auch die erſtere iſt Verirrung, denn es fixirt ſich ein Mo-
ment, das in die Intereſſeloſigkeit der Objectivität aufgehoben werden
ſollte (Heinſe). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher
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3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Subſtantialität
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/99>, abgerufen am 15.06.2024.
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