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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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führung eines schmäleren Körpers auf einen überragenden oder unter-
liegenden breiteren Körper dar, wo es dem Gefühle überlassen ist, ob es
diese Linie einem leichten Drucke der Last zuschreiben will, der diese freiere
Ausbreitung zuläßt, oder ein ganz freiwilliges hinanstrebendes und ab-
fließendes Ausquellen der Masse anzunehmen vorzieht; jenes wird mehr bei
der großen Architektur, wo diese Kehlen sich an schwere Platten aufwärts
anschmiegen oder abwärts als Unterstes einer von oben gedrückten Masse
anlegen, dieses bei Gefäßen der Fall sein. Bei diesen concaven Formen
ist es vorzüglich, wo die Schattenwirkung ihre Energie ausübt, daher der
Name scotia. Hier erst, als Verbindung des convexen und concaven
Profils, haben wir nun die Welle (Kyma) aufzuführen. Sie zeigt offen-
bar einen spielenden Uebergang zwischen dieser freieren Ausbreitung und
jener abgenöthigten Auspressung an. Die steigende Welle drückt eine Be-
lastung aus, die zu unterst eine Ausschwellung bewirkt, weiter nach oben
aber der Masse vergönnt, in leichterem Spiele der Einziehung und Wieder-
ausbreitung sich dem Ueberragenden anzulegen; bei der fallenden Welle
geht dieselbe Bewegung von dem schmäleren Körper der Last nach der
überragenden Unterlage hin. Die verkehrt steigende und verkehrt fallende
Welle bringt ein Spiel der Kräfte zur Anschauung, worin der Druck
anfangs leichter wirkend der Masse nur die concave Bewegung, dann
stärker zwingend die convere Ausschwellung abgewinnt. Der Blätterschmuck
gibt der Doppelbewegung ihren organisch ästhetischen Ausdruck. -- Sehen
wir nun in allen diesen Gliedern den leichteren oder stärkeren Conflict
ausgedrückt (wiewohl so, daß die Ueberleitung oder Lösung zugleich mit-
gegeben ist), so symbolisiren dagegen andere zunächst die Verknüpfung.
Diese können allerdings nicht aus einem der Masse selbst, als wäre sie
eine bewegte, untergestellten Motive, sondern nur aus der Analogie eines
von außen mechanisch Angelegten erklärt werden, welches den ästhetischen
Anschein hat, als verhindere es eine Wirkung des Conflicts, welche bis
zur Zerstörung der Form fortgienge. Bötticher, der ihre Bedeutung
spezieller darin findet, daß sie die übrigen Glieder als der Kernform ver-
knüpft darstellen sollen, nennt sie Heftbänder. Zu den zarteren Formen
dieser Art gehört ein Glied von rundem Profil: der Stab, dessen Name
unpassend auf die hinanstrebenden gothischen "Rundstäbe" übergegangen und
überhaupt unrichtig ist; er stellt eine zusammenhaltende, umgelegte Schnur
dar, die in der sogenannten Perlenschnur sich plastisch als eine Spange
ausspricht, woran Astragalen gefaßt sind. Von eckigem Profil ist der
Riemen (sonst auch Leistchen), der einfach oder in mehrfacher Umwicklung
(spira) die ausquellende Masse zusammenhält, als habe er sie am Platzen
zu hindern; das letztere ist z. B. unter dem Wulste des dorischen Säulen-
knaufs der Fall, wo diese Form von der Aehnlichkeit eines mehrfach umge-

führung eines ſchmäleren Körpers auf einen überragenden oder unter-
liegenden breiteren Körper dar, wo es dem Gefühle überlaſſen iſt, ob es
dieſe Linie einem leichten Drucke der Laſt zuſchreiben will, der dieſe freiere
Ausbreitung zuläßt, oder ein ganz freiwilliges hinanſtrebendes und ab-
fließendes Ausquellen der Maſſe anzunehmen vorzieht; jenes wird mehr bei
der großen Architektur, wo dieſe Kehlen ſich an ſchwere Platten aufwärts
anſchmiegen oder abwärts als Unterſtes einer von oben gedrückten Maſſe
anlegen, dieſes bei Gefäßen der Fall ſein. Bei dieſen concaven Formen
iſt es vorzüglich, wo die Schattenwirkung ihre Energie ausübt, daher der
Name scotia. Hier erſt, als Verbindung des convexen und concaven
Profils, haben wir nun die Welle (Kyma) aufzuführen. Sie zeigt offen-
bar einen ſpielenden Uebergang zwiſchen dieſer freieren Ausbreitung und
jener abgenöthigten Auspreſſung an. Die ſteigende Welle drückt eine Be-
laſtung aus, die zu unterſt eine Ausſchwellung bewirkt, weiter nach oben
aber der Maſſe vergönnt, in leichterem Spiele der Einziehung und Wieder-
ausbreitung ſich dem Ueberragenden anzulegen; bei der fallenden Welle
geht dieſelbe Bewegung von dem ſchmäleren Körper der Laſt nach der
überragenden Unterlage hin. Die verkehrt ſteigende und verkehrt fallende
Welle bringt ein Spiel der Kräfte zur Anſchauung, worin der Druck
anfangs leichter wirkend der Maſſe nur die concave Bewegung, dann
ſtärker zwingend die convere Ausſchwellung abgewinnt. Der Blätterſchmuck
gibt der Doppelbewegung ihren organiſch äſthetiſchen Ausdruck. — Sehen
wir nun in allen dieſen Gliedern den leichteren oder ſtärkeren Conflict
ausgedrückt (wiewohl ſo, daß die Ueberleitung oder Löſung zugleich mit-
gegeben iſt), ſo ſymboliſiren dagegen andere zunächſt die Verknüpfung.
Dieſe können allerdings nicht aus einem der Maſſe ſelbſt, als wäre ſie
eine bewegte, untergeſtellten Motive, ſondern nur aus der Analogie eines
von außen mechaniſch Angelegten erklärt werden, welches den äſthetiſchen
Anſchein hat, als verhindere es eine Wirkung des Conflicts, welche bis
zur Zerſtörung der Form fortgienge. Bötticher, der ihre Bedeutung
ſpezieller darin findet, daß ſie die übrigen Glieder als der Kernform ver-
knüpft darſtellen ſollen, nennt ſie Heftbänder. Zu den zarteren Formen
dieſer Art gehört ein Glied von rundem Profil: der Stab, deſſen Name
unpaſſend auf die hinanſtrebenden gothiſchen „Rundſtäbe“ übergegangen und
überhaupt unrichtig iſt; er ſtellt eine zuſammenhaltende, umgelegte Schnur
dar, die in der ſogenannten Perlenſchnur ſich plaſtiſch als eine Spange
ausſpricht, woran Aſtragalen gefaßt ſind. Von eckigem Profil iſt der
Riemen (ſonſt auch Leiſtchen), der einfach oder in mehrfacher Umwicklung
(spira) die ausquellende Maſſe zuſammenhält, als habe er ſie am Platzen
zu hindern; das letztere iſt z. B. unter dem Wulſte des doriſchen Säulen-
knaufs der Fall, wo dieſe Form von der Aehnlichkeit eines mehrfach umge-

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[243/0083] führung eines ſchmäleren Körpers auf einen überragenden oder unter- liegenden breiteren Körper dar, wo es dem Gefühle überlaſſen iſt, ob es dieſe Linie einem leichten Drucke der Laſt zuſchreiben will, der dieſe freiere Ausbreitung zuläßt, oder ein ganz freiwilliges hinanſtrebendes und ab- fließendes Ausquellen der Maſſe anzunehmen vorzieht; jenes wird mehr bei der großen Architektur, wo dieſe Kehlen ſich an ſchwere Platten aufwärts anſchmiegen oder abwärts als Unterſtes einer von oben gedrückten Maſſe anlegen, dieſes bei Gefäßen der Fall ſein. Bei dieſen concaven Formen iſt es vorzüglich, wo die Schattenwirkung ihre Energie ausübt, daher der Name scotia. Hier erſt, als Verbindung des convexen und concaven Profils, haben wir nun die Welle (Kyma) aufzuführen. Sie zeigt offen- bar einen ſpielenden Uebergang zwiſchen dieſer freieren Ausbreitung und jener abgenöthigten Auspreſſung an. Die ſteigende Welle drückt eine Be- laſtung aus, die zu unterſt eine Ausſchwellung bewirkt, weiter nach oben aber der Maſſe vergönnt, in leichterem Spiele der Einziehung und Wieder- ausbreitung ſich dem Ueberragenden anzulegen; bei der fallenden Welle geht dieſelbe Bewegung von dem ſchmäleren Körper der Laſt nach der überragenden Unterlage hin. Die verkehrt ſteigende und verkehrt fallende Welle bringt ein Spiel der Kräfte zur Anſchauung, worin der Druck anfangs leichter wirkend der Maſſe nur die concave Bewegung, dann ſtärker zwingend die convere Ausſchwellung abgewinnt. Der Blätterſchmuck gibt der Doppelbewegung ihren organiſch äſthetiſchen Ausdruck. — Sehen wir nun in allen dieſen Gliedern den leichteren oder ſtärkeren Conflict ausgedrückt (wiewohl ſo, daß die Ueberleitung oder Löſung zugleich mit- gegeben iſt), ſo ſymboliſiren dagegen andere zunächſt die Verknüpfung. Dieſe können allerdings nicht aus einem der Maſſe ſelbſt, als wäre ſie eine bewegte, untergeſtellten Motive, ſondern nur aus der Analogie eines von außen mechaniſch Angelegten erklärt werden, welches den äſthetiſchen Anſchein hat, als verhindere es eine Wirkung des Conflicts, welche bis zur Zerſtörung der Form fortgienge. Bötticher, der ihre Bedeutung ſpezieller darin findet, daß ſie die übrigen Glieder als der Kernform ver- knüpft darſtellen ſollen, nennt ſie Heftbänder. Zu den zarteren Formen dieſer Art gehört ein Glied von rundem Profil: der Stab, deſſen Name unpaſſend auf die hinanſtrebenden gothiſchen „Rundſtäbe“ übergegangen und überhaupt unrichtig iſt; er ſtellt eine zuſammenhaltende, umgelegte Schnur dar, die in der ſogenannten Perlenſchnur ſich plaſtiſch als eine Spange ausſpricht, woran Aſtragalen gefaßt ſind. Von eckigem Profil iſt der Riemen (ſonſt auch Leiſtchen), der einfach oder in mehrfacher Umwicklung (spira) die ausquellende Maſſe zuſammenhält, als habe er ſie am Platzen zu hindern; das letztere iſt z. B. unter dem Wulſte des doriſchen Säulen- knaufs der Fall, wo dieſe Form von der Aehnlichkeit eines mehrfach umge-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/83>, abgerufen am 29.04.2024.