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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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nun der Tempel entsprechen und die Frage nach einer Gattung von
Architektur entstehen, die ihn ebenso zu verdrängen bestimmt wäre, wie
das rein historische Gemälde das mythische, der Roman das Epos, das
reine Drama die Mysterienstücke, wiewohl beide vermöge jenes geschicht-
lichen Widerspruchs noch nebeneinander beständen. Allein eine solche Gat-
tung gibt es nicht, Tempel und Kirche kann nicht ersetzt werden. Es ist
aber auch kein innerer Grund dazu vorhanden und hier liegt denn in
der individualitätslosen Natur der Baukunst ein großer Vortheil über andere
Künste. Das absolute Haus ist nämlich gar nicht nothwendig das Haus
eines transcendenten Gottes, sondern kann ebensowohl das Haus der
reinen Gegenwart des immanent angeschauten absoluten Geistes in der
Andacht der Gemeinde sein. Weil die Baukunst keine Individuen bildet,
so bildet sich auch keinen Götterleib und neben dem Hause, das der Ver-
ehrung des nicht mythisch vorgestellten allgemeinen Geistes dient, können
ohne Widerspruch die Bauwerke stehen, die der besondern Realität desselben
in den bestimmten Sphären des Lebens gewidmet sind. Dieß öffnet
einen schönen Blick in die Zukunft: die reine Religion als Erhebung zum
wahrhaft Unendlichen wird ihren Tempelstyl erzeugen und da aller Styl
seine Hauptwurzel in der Baukunst hat, ist ein neuer Kunststyl ebendaher
eine Möglichkeit. Wir werden dasselbe bei der Musik finden; es gibt
eine götterlose Musik, die dennoch religiös ist im Sinn einer Cultusform
und die neben der weltlichen Musik in alle Zeit bestehen kann ohne den
Widerspruch, der in dem Nebeneinanderbestehen des rein historischen und
des mythisch historischen Gemäldes liegt.

3. Nachdem gezeigt ist, daß die einzige durchgreifende Eintheilung
auf die Zwecke der Baukunst gegründet werden kann, so tritt nun nach-
träglich vor Allem, zwar weit nicht bestimmt genug, um mehr, als eine
schwankende Analogie, zu bilden, doch sehr interessant der Anklang an
den tieferen Zweig-Unterschied in anderen Künsten hervor, der im §. an-
gedeutet ist. Zunächst spielt etwas den Arten der Phantasie, die auf den
naturschönen Stoff gegründet sind, Entsprechendes herein: die ländliche
Baukunst erinnert an die landschaftliche Phantasie (ganz abgesehen von
der allgemeinen Beziehung, in der die ganze Baukunst als die Idealisi-
rung der unorganischen Natur zu ihr steht §. 558) zugleich an die Sphäre
der rein menschlichen, die das Genrebild erzeugt; an diese mahnt in
anderem Sinne das städtische Wohnhaus und der Privat-Palast, der
letztere hat zugleich Analogie mit dem Porträt; das öffentliche, politische
Gebäude entspricht der geschichtlichen Phantasie; in Bauten des öffentlichen
Verkehrs mischt sich diese wieder mit der landschaftlichen, in Gebäuden
der Gewerbsthätigkeit u. dergl. mit der genreartigen, in Gebäuden für
geistige Zwecke mit jener Sphäre der "rein menschlichen", die das Humane

nun der Tempel entſprechen und die Frage nach einer Gattung von
Architektur entſtehen, die ihn ebenſo zu verdrängen beſtimmt wäre, wie
das rein hiſtoriſche Gemälde das mythiſche, der Roman das Epos, das
reine Drama die Myſterienſtücke, wiewohl beide vermöge jenes geſchicht-
lichen Widerſpruchs noch nebeneinander beſtänden. Allein eine ſolche Gat-
tung gibt es nicht, Tempel und Kirche kann nicht erſetzt werden. Es iſt
aber auch kein innerer Grund dazu vorhanden und hier liegt denn in
der individualitätsloſen Natur der Baukunſt ein großer Vortheil über andere
Künſte. Das abſolute Haus iſt nämlich gar nicht nothwendig das Haus
eines tranſcendenten Gottes, ſondern kann ebenſowohl das Haus der
reinen Gegenwart des immanent angeſchauten abſoluten Geiſtes in der
Andacht der Gemeinde ſein. Weil die Baukunſt keine Individuen bildet,
ſo bildet ſich auch keinen Götterleib und neben dem Hauſe, das der Ver-
ehrung des nicht mythiſch vorgeſtellten allgemeinen Geiſtes dient, können
ohne Widerſpruch die Bauwerke ſtehen, die der beſondern Realität deſſelben
in den beſtimmten Sphären des Lebens gewidmet ſind. Dieß öffnet
einen ſchönen Blick in die Zukunft: die reine Religion als Erhebung zum
wahrhaft Unendlichen wird ihren Tempelſtyl erzeugen und da aller Styl
ſeine Hauptwurzel in der Baukunſt hat, iſt ein neuer Kunſtſtyl ebendaher
eine Möglichkeit. Wir werden daſſelbe bei der Muſik finden; es gibt
eine götterloſe Muſik, die dennoch religiös iſt im Sinn einer Cultusform
und die neben der weltlichen Muſik in alle Zeit beſtehen kann ohne den
Widerſpruch, der in dem Nebeneinanderbeſtehen des rein hiſtoriſchen und
des mythiſch hiſtoriſchen Gemäldes liegt.

3. Nachdem gezeigt iſt, daß die einzige durchgreifende Eintheilung
auf die Zwecke der Baukunſt gegründet werden kann, ſo tritt nun nach-
träglich vor Allem, zwar weit nicht beſtimmt genug, um mehr, als eine
ſchwankende Analogie, zu bilden, doch ſehr intereſſant der Anklang an
den tieferen Zweig-Unterſchied in anderen Künſten hervor, der im §. an-
gedeutet iſt. Zunächſt ſpielt etwas den Arten der Phantaſie, die auf den
naturſchönen Stoff gegründet ſind, Entſprechendes herein: die ländliche
Baukunſt erinnert an die landſchaftliche Phantaſie (ganz abgeſehen von
der allgemeinen Beziehung, in der die ganze Baukunſt als die Idealiſi-
rung der unorganiſchen Natur zu ihr ſteht §. 558) zugleich an die Sphäre
der rein menſchlichen, die das Genrebild erzeugt; an dieſe mahnt in
anderem Sinne das ſtädtiſche Wohnhaus und der Privat-Palaſt, der
letztere hat zugleich Analogie mit dem Porträt; das öffentliche, politiſche
Gebäude entſpricht der geſchichtlichen Phantaſie; in Bauten des öffentlichen
Verkehrs miſcht ſich dieſe wieder mit der landſchaftlichen, in Gebäuden
der Gewerbsthätigkeit u. dergl. mit der genreartigen, in Gebäuden für
geiſtige Zwecke mit jener Sphäre der „rein menſchlichen“, die das Humane

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[254/0094] nun der Tempel entſprechen und die Frage nach einer Gattung von Architektur entſtehen, die ihn ebenſo zu verdrängen beſtimmt wäre, wie das rein hiſtoriſche Gemälde das mythiſche, der Roman das Epos, das reine Drama die Myſterienſtücke, wiewohl beide vermöge jenes geſchicht- lichen Widerſpruchs noch nebeneinander beſtänden. Allein eine ſolche Gat- tung gibt es nicht, Tempel und Kirche kann nicht erſetzt werden. Es iſt aber auch kein innerer Grund dazu vorhanden und hier liegt denn in der individualitätsloſen Natur der Baukunſt ein großer Vortheil über andere Künſte. Das abſolute Haus iſt nämlich gar nicht nothwendig das Haus eines tranſcendenten Gottes, ſondern kann ebenſowohl das Haus der reinen Gegenwart des immanent angeſchauten abſoluten Geiſtes in der Andacht der Gemeinde ſein. Weil die Baukunſt keine Individuen bildet, ſo bildet ſich auch keinen Götterleib und neben dem Hauſe, das der Ver- ehrung des nicht mythiſch vorgeſtellten allgemeinen Geiſtes dient, können ohne Widerſpruch die Bauwerke ſtehen, die der beſondern Realität deſſelben in den beſtimmten Sphären des Lebens gewidmet ſind. Dieß öffnet einen ſchönen Blick in die Zukunft: die reine Religion als Erhebung zum wahrhaft Unendlichen wird ihren Tempelſtyl erzeugen und da aller Styl ſeine Hauptwurzel in der Baukunſt hat, iſt ein neuer Kunſtſtyl ebendaher eine Möglichkeit. Wir werden daſſelbe bei der Muſik finden; es gibt eine götterloſe Muſik, die dennoch religiös iſt im Sinn einer Cultusform und die neben der weltlichen Muſik in alle Zeit beſtehen kann ohne den Widerſpruch, der in dem Nebeneinanderbeſtehen des rein hiſtoriſchen und des mythiſch hiſtoriſchen Gemäldes liegt. 3. Nachdem gezeigt iſt, daß die einzige durchgreifende Eintheilung auf die Zwecke der Baukunſt gegründet werden kann, ſo tritt nun nach- träglich vor Allem, zwar weit nicht beſtimmt genug, um mehr, als eine ſchwankende Analogie, zu bilden, doch ſehr intereſſant der Anklang an den tieferen Zweig-Unterſchied in anderen Künſten hervor, der im §. an- gedeutet iſt. Zunächſt ſpielt etwas den Arten der Phantaſie, die auf den naturſchönen Stoff gegründet ſind, Entſprechendes herein: die ländliche Baukunſt erinnert an die landſchaftliche Phantaſie (ganz abgeſehen von der allgemeinen Beziehung, in der die ganze Baukunſt als die Idealiſi- rung der unorganiſchen Natur zu ihr ſteht §. 558) zugleich an die Sphäre der rein menſchlichen, die das Genrebild erzeugt; an dieſe mahnt in anderem Sinne das ſtädtiſche Wohnhaus und der Privat-Palaſt, der letztere hat zugleich Analogie mit dem Porträt; das öffentliche, politiſche Gebäude entſpricht der geſchichtlichen Phantaſie; in Bauten des öffentlichen Verkehrs miſcht ſich dieſe wieder mit der landſchaftlichen, in Gebäuden der Gewerbsthätigkeit u. dergl. mit der genreartigen, in Gebäuden für geiſtige Zwecke mit jener Sphäre der „rein menſchlichen“, die das Humane

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/94>, abgerufen am 29.04.2024.