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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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bei stehenden Figuren nicht gleichmäßig tragend erscheinen, sondern der
Körper sich auf das eine stemmen und dadurch das andere befreien (als
Gesetz hat dieß Polyklet festgestellt; "ut uno crure insisterent signa" sagt
Plinius; sog. Standfuß und Spielfuß). Die plastische Natur ist ihrer
selbst so sicher, daß sie sich völlig gehen läßt; jeder Zwang ist fern; das
freundliche Spiel der Zufälligkeit des Lebens ergießt sich mild und leicht
über das Ganze; das Gesetz der legerete, das schon in §. 33 als ein
Grundgesetz des Schönen aufgestellt ist, wird gerade hier doppelt fühl-
bar, wo es an seinem Gegentheile, der Strenge der Proportion, zu Tage
tritt. Die Darstellung wirklicher Bewegung nun führt uns auf den Be-
griff des Momentanen, also zu §. 613 zurück. Dort ist bereits ausein-
andergesetzt, daß das Momentane an sich keineswegs der Bildnerkunst
widerstrebt, daß der Gegensatz zwischen Ruhe und Bewegung ein rela-
tiver ist und daß die schnellste, augenblicklichste, also auch heftigste Be-
wegung dem Bildner nicht verwehrt sein kann, sofern nur nicht etwas
Anderes, Qualitatives hinzutritt, was dieß Quantitative, den Grad
der Beschleunigung und Gewalt, unschön macht. Dieß "sofern nicht"
drückt der gegenwärtige §. durch das "an sich" aus. Es liegt uns also bis
jetzt eine positive Schranke nicht vor, als diejenige, welche in der Forde-
rung schwungvoll einfacher Umrisse §. 615 und in der Festhaltung des
Schwerpuncts §. 600 liegt. Jene fordert allgemeine Rundheit der Be-
wegungen; bei schwächeren, weniger unruhigen gibt sich diese leicht, die
heftigen aber reißen die großen Hebel des Körpers mehr excentrisch ab
und es wird schwerer, das Spitze, Eckige, Telegraphenartige zu meiden,
aber es ist nothwendig. Wir reden hier, wie gesagt, noch nicht vom
Affect als Grund der Bewegungen, es gibt auch ohne solchen, namentlich
im Tanze, in Leibesübung, Schein-Kampf, gewaltsame Bewegungen genug:
die Bacchantinn scheint im wilden Taumel die Glieder wegwerfen zu
wollen, der heftige Ausfall des borghesischen Fechters wäre auch ohne
die Aufregung ernsten Kampfes denkbar, Myrons Diskobol verkrümmt ge-
waltsam die Glieder zum Anwurf, die Ring-Faustkämpfer in Florenz
verflechten ihre Glieder zum wilden Knäuel, und doch ist nirgends der
Fluß der Linien zerrissen. Die andere Schranke, welche durch die Forde-
rung entsteht, daß der Schwerpunct auf überzeugende Weise eingehalten
werde, beengt, wie schon zu §. 600 im Allgemeinen bemerkt ist, die
Bildnerkunst weniger, als es den Anschein hat: es ist dem Bildner nicht
alles "Schwebende, Fahrende, Sausende, Fallende" (Rumohr Ital.
Forsch. Thl. I, S. 91) versagt; aber eine Grenze ist allerdings gesteckt,
sie ist da, wo aus dem Verluste des Schwerpunctes nicht eine selbst wie-
der in gewissem Sinn schwungvolle, sondern schlechthin unbeholfene Be-
wegung hervorgeht, wie das Taumeln des Betrunkenen, das Straucheln

bei ſtehenden Figuren nicht gleichmäßig tragend erſcheinen, ſondern der
Körper ſich auf das eine ſtemmen und dadurch das andere befreien (als
Geſetz hat dieß Polyklet feſtgeſtellt; „ut uno crure insisterent signa“ ſagt
Plinius; ſog. Standfuß und Spielfuß). Die plaſtiſche Natur iſt ihrer
ſelbſt ſo ſicher, daß ſie ſich völlig gehen läßt; jeder Zwang iſt fern; das
freundliche Spiel der Zufälligkeit des Lebens ergießt ſich mild und leicht
über das Ganze; das Geſetz der légèreté, das ſchon in §. 33 als ein
Grundgeſetz des Schönen aufgeſtellt iſt, wird gerade hier doppelt fühl-
bar, wo es an ſeinem Gegentheile, der Strenge der Proportion, zu Tage
tritt. Die Darſtellung wirklicher Bewegung nun führt uns auf den Be-
griff des Momentanen, alſo zu §. 613 zurück. Dort iſt bereits ausein-
andergeſetzt, daß das Momentane an ſich keineswegs der Bildnerkunſt
widerſtrebt, daß der Gegenſatz zwiſchen Ruhe und Bewegung ein rela-
tiver iſt und daß die ſchnellſte, augenblicklichſte, alſo auch heftigſte Be-
wegung dem Bildner nicht verwehrt ſein kann, ſofern nur nicht etwas
Anderes, Qualitatives hinzutritt, was dieß Quantitative, den Grad
der Beſchleunigung und Gewalt, unſchön macht. Dieß „ſofern nicht“
drückt der gegenwärtige §. durch das „an ſich“ aus. Es liegt uns alſo bis
jetzt eine poſitive Schranke nicht vor, als diejenige, welche in der Forde-
rung ſchwungvoll einfacher Umriſſe §. 615 und in der Feſthaltung des
Schwerpuncts §. 600 liegt. Jene fordert allgemeine Rundheit der Be-
wegungen; bei ſchwächeren, weniger unruhigen gibt ſich dieſe leicht, die
heftigen aber reißen die großen Hebel des Körpers mehr excentriſch ab
und es wird ſchwerer, das Spitze, Eckige, Telegraphenartige zu meiden,
aber es iſt nothwendig. Wir reden hier, wie geſagt, noch nicht vom
Affect als Grund der Bewegungen, es gibt auch ohne ſolchen, namentlich
im Tanze, in Leibesübung, Schein-Kampf, gewaltſame Bewegungen genug:
die Bacchantinn ſcheint im wilden Taumel die Glieder wegwerfen zu
wollen, der heftige Ausfall des borgheſiſchen Fechters wäre auch ohne
die Aufregung ernſten Kampfes denkbar, Myrons Diſkobol verkrümmt ge-
waltſam die Glieder zum Anwurf, die Ring-Fauſtkämpfer in Florenz
verflechten ihre Glieder zum wilden Knäuel, und doch iſt nirgends der
Fluß der Linien zerriſſen. Die andere Schranke, welche durch die Forde-
rung entſteht, daß der Schwerpunct auf überzeugende Weiſe eingehalten
werde, beengt, wie ſchon zu §. 600 im Allgemeinen bemerkt iſt, die
Bildnerkunſt weniger, als es den Anſchein hat: es iſt dem Bildner nicht
alles „Schwebende, Fahrende, Sauſende, Fallende“ (Rumohr Ital.
Forſch. Thl. I, S. 91) verſagt; aber eine Grenze iſt allerdings geſteckt,
ſie iſt da, wo aus dem Verluſte des Schwerpunctes nicht eine ſelbſt wie-
der in gewiſſem Sinn ſchwungvolle, ſondern ſchlechthin unbeholfene Be-
wegung hervorgeht, wie das Taumeln des Betrunkenen, das Straucheln

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[429/0103] bei ſtehenden Figuren nicht gleichmäßig tragend erſcheinen, ſondern der Körper ſich auf das eine ſtemmen und dadurch das andere befreien (als Geſetz hat dieß Polyklet feſtgeſtellt; „ut uno crure insisterent signa“ ſagt Plinius; ſog. Standfuß und Spielfuß). Die plaſtiſche Natur iſt ihrer ſelbſt ſo ſicher, daß ſie ſich völlig gehen läßt; jeder Zwang iſt fern; das freundliche Spiel der Zufälligkeit des Lebens ergießt ſich mild und leicht über das Ganze; das Geſetz der légèreté, das ſchon in §. 33 als ein Grundgeſetz des Schönen aufgeſtellt iſt, wird gerade hier doppelt fühl- bar, wo es an ſeinem Gegentheile, der Strenge der Proportion, zu Tage tritt. Die Darſtellung wirklicher Bewegung nun führt uns auf den Be- griff des Momentanen, alſo zu §. 613 zurück. Dort iſt bereits ausein- andergeſetzt, daß das Momentane an ſich keineswegs der Bildnerkunſt widerſtrebt, daß der Gegenſatz zwiſchen Ruhe und Bewegung ein rela- tiver iſt und daß die ſchnellſte, augenblicklichſte, alſo auch heftigſte Be- wegung dem Bildner nicht verwehrt ſein kann, ſofern nur nicht etwas Anderes, Qualitatives hinzutritt, was dieß Quantitative, den Grad der Beſchleunigung und Gewalt, unſchön macht. Dieß „ſofern nicht“ drückt der gegenwärtige §. durch das „an ſich“ aus. Es liegt uns alſo bis jetzt eine poſitive Schranke nicht vor, als diejenige, welche in der Forde- rung ſchwungvoll einfacher Umriſſe §. 615 und in der Feſthaltung des Schwerpuncts §. 600 liegt. Jene fordert allgemeine Rundheit der Be- wegungen; bei ſchwächeren, weniger unruhigen gibt ſich dieſe leicht, die heftigen aber reißen die großen Hebel des Körpers mehr excentriſch ab und es wird ſchwerer, das Spitze, Eckige, Telegraphenartige zu meiden, aber es iſt nothwendig. Wir reden hier, wie geſagt, noch nicht vom Affect als Grund der Bewegungen, es gibt auch ohne ſolchen, namentlich im Tanze, in Leibesübung, Schein-Kampf, gewaltſame Bewegungen genug: die Bacchantinn ſcheint im wilden Taumel die Glieder wegwerfen zu wollen, der heftige Ausfall des borgheſiſchen Fechters wäre auch ohne die Aufregung ernſten Kampfes denkbar, Myrons Diſkobol verkrümmt ge- waltſam die Glieder zum Anwurf, die Ring-Fauſtkämpfer in Florenz verflechten ihre Glieder zum wilden Knäuel, und doch iſt nirgends der Fluß der Linien zerriſſen. Die andere Schranke, welche durch die Forde- rung entſteht, daß der Schwerpunct auf überzeugende Weiſe eingehalten werde, beengt, wie ſchon zu §. 600 im Allgemeinen bemerkt iſt, die Bildnerkunſt weniger, als es den Anſchein hat: es iſt dem Bildner nicht alles „Schwebende, Fahrende, Sauſende, Fallende“ (Rumohr Ital. Forſch. Thl. I, S. 91) verſagt; aber eine Grenze iſt allerdings geſteckt, ſie iſt da, wo aus dem Verluſte des Schwerpunctes nicht eine ſelbſt wie- der in gewiſſem Sinn ſchwungvolle, ſondern ſchlechthin unbeholfene Be- wegung hervorgeht, wie das Taumeln des Betrunkenen, das Straucheln

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/103>, abgerufen am 29.04.2024.