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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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tarische Behandlungsweise besonders auf das Porträt angewiesen; die
Alten haben aber auch Götter so dargestellt, weil sie ihnen als lebende
Wesen galten, von denen man ein Bildniß machen könne, und bei dem
Gotte freilich war das Antlitz unbeschadet der wesentlich mitsprechenden
Bedeutung des übrigen Körpers in höherer Weise Inbegriff des ganzen
Ausdrucks, als bei dem Athleten und Heros. Außerdem gab es Stoffe,
wo der Mythus und das Kunst-Interesse die bloße Darstellung des An-
gesichts mit sich brachte, wie das Medusenhaupt. -- Der andere Einthei-
lungsgrund ist der des Moments, den die Kunst ergreift. Hiezu vergl.
was über die Stufen der Situation §. 336 Anm. 1. gesagt ist; was zu
§§. 613. 622. 623. 625, dann in der Lehre von der plastischen Com-
position, namentlich §. 628, 2. hervorgehoben wurde, beleuchtete densel-
ben Punct in anderem Zusammenhang. Die Bildsäule kann die Persön-
lichkeit auffassen in unbewegter Ruhe des in sich webenden, wurzelnden,
gesättigten Charakters, oder in harmloser Situation, fortgehend zu einer
Thätigkeit, die keine Spannung, keinen ernsten Kampf in sich schließt,
sondern bald mehr eigentliches Spiel, bald mehr harmlose Beschäftigung
ist, oder in Anfang, Mitte, Ende einer gespannten Situation, d. h.
eines ernsten Kampfes. Die zweite Person oder Thier, Ungeheuer wird
durch die Phantasie des Zuschauers ergänzt. Die Gruppe durchwandelt
dieselben Stufen, nur daß die erste, die der Ruhe, schon spezieller be-
stimmt ist, indem sie eine vorangegangene Zusammenbewegung, Vereini-
gung der Figuren voraussetzt. -- Fragt man nun, wie sich die vorlie-
gende Eintheilung zu denen der vorh. §§. verhalte, so bleibt es bei der
obigen Bemerkung: sie läuft neben denselben ganz selbständig her; Sta-
tue und Gruppe, Ruhe, harmlose und gespannte Situation können Gott
oder Mensch (und Thier), Genre oder Geschichte darstellen. Erwägt man
aber, daß im tiefsten Sinn alle Bildnerkunst Götterdarstellung ist, so er-
scheint, wie schon früher gesagt ist, hier aber ausdrücklich hervorgestellt
werden muß, die Statue als der in sich beschlossene, in seiner Einheit
verharrende, die Gruppe als der in Vielheit aufgelöste und in Hand-
lung gesetzte Gott, dort der gesammelte, hier der ausgegossene Gottes-
geist. Wir werden sehen, wie sich die Malerei auf die zweite dieser Be-
stimmungen wirft. Am reinsten und schärfsten tritt sie ein in jenen Wer-
ken, die den Menschen in Gottgesendetem tragischem Leiden darstellen, ei-
nem Laokoon, einer Nioliden-Gruppe; der entfernte Gott ist in seinem
Handeln gegenwärtig.

§. 633.

Dagegen steht der Unterschied des Materials und der technischen
Behandlung
(§. 540), welcher letztere hier der des Relief, des an die

tariſche Behandlungsweiſe beſonders auf das Porträt angewieſen; die
Alten haben aber auch Götter ſo dargeſtellt, weil ſie ihnen als lebende
Weſen galten, von denen man ein Bildniß machen könne, und bei dem
Gotte freilich war das Antlitz unbeſchadet der weſentlich mitſprechenden
Bedeutung des übrigen Körpers in höherer Weiſe Inbegriff des ganzen
Ausdrucks, als bei dem Athleten und Heros. Außerdem gab es Stoffe,
wo der Mythus und das Kunſt-Intereſſe die bloße Darſtellung des An-
geſichts mit ſich brachte, wie das Meduſenhaupt. — Der andere Einthei-
lungsgrund iſt der des Moments, den die Kunſt ergreift. Hiezu vergl.
was über die Stufen der Situation §. 336 Anm. 1. geſagt iſt; was zu
§§. 613. 622. 623. 625, dann in der Lehre von der plaſtiſchen Com-
poſition, namentlich §. 628, 2. hervorgehoben wurde, beleuchtete denſel-
ben Punct in anderem Zuſammenhang. Die Bildſäule kann die Perſön-
lichkeit auffaſſen in unbewegter Ruhe des in ſich webenden, wurzelnden,
geſättigten Charakters, oder in harmloſer Situation, fortgehend zu einer
Thätigkeit, die keine Spannung, keinen ernſten Kampf in ſich ſchließt,
ſondern bald mehr eigentliches Spiel, bald mehr harmloſe Beſchäftigung
iſt, oder in Anfang, Mitte, Ende einer geſpannten Situation, d. h.
eines ernſten Kampfes. Die zweite Perſon oder Thier, Ungeheuer wird
durch die Phantaſie des Zuſchauers ergänzt. Die Gruppe durchwandelt
dieſelben Stufen, nur daß die erſte, die der Ruhe, ſchon ſpezieller be-
ſtimmt iſt, indem ſie eine vorangegangene Zuſammenbewegung, Vereini-
gung der Figuren vorausſetzt. — Fragt man nun, wie ſich die vorlie-
gende Eintheilung zu denen der vorh. §§. verhalte, ſo bleibt es bei der
obigen Bemerkung: ſie läuft neben denſelben ganz ſelbſtändig her; Sta-
tue und Gruppe, Ruhe, harmloſe und geſpannte Situation können Gott
oder Menſch (und Thier), Genre oder Geſchichte darſtellen. Erwägt man
aber, daß im tiefſten Sinn alle Bildnerkunſt Götterdarſtellung iſt, ſo er-
ſcheint, wie ſchon früher geſagt iſt, hier aber ausdrücklich hervorgeſtellt
werden muß, die Statue als der in ſich beſchloſſene, in ſeiner Einheit
verharrende, die Gruppe als der in Vielheit aufgelöste und in Hand-
lung geſetzte Gott, dort der geſammelte, hier der ausgegoſſene Gottes-
geiſt. Wir werden ſehen, wie ſich die Malerei auf die zweite dieſer Be-
ſtimmungen wirft. Am reinſten und ſchärfſten tritt ſie ein in jenen Wer-
ken, die den Menſchen in Gottgeſendetem tragiſchem Leiden darſtellen, ei-
nem Laokoon, einer Nioliden-Gruppe; der entfernte Gott iſt in ſeinem
Handeln gegenwärtig.

§. 633.

Dagegen ſteht der Unterſchied des Materials und der techniſchen
Behandlung
(§. 540), welcher letztere hier der des Relief, des an die

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[462/0136] tariſche Behandlungsweiſe beſonders auf das Porträt angewieſen; die Alten haben aber auch Götter ſo dargeſtellt, weil ſie ihnen als lebende Weſen galten, von denen man ein Bildniß machen könne, und bei dem Gotte freilich war das Antlitz unbeſchadet der weſentlich mitſprechenden Bedeutung des übrigen Körpers in höherer Weiſe Inbegriff des ganzen Ausdrucks, als bei dem Athleten und Heros. Außerdem gab es Stoffe, wo der Mythus und das Kunſt-Intereſſe die bloße Darſtellung des An- geſichts mit ſich brachte, wie das Meduſenhaupt. — Der andere Einthei- lungsgrund iſt der des Moments, den die Kunſt ergreift. Hiezu vergl. was über die Stufen der Situation §. 336 Anm. 1. geſagt iſt; was zu §§. 613. 622. 623. 625, dann in der Lehre von der plaſtiſchen Com- poſition, namentlich §. 628, 2. hervorgehoben wurde, beleuchtete denſel- ben Punct in anderem Zuſammenhang. Die Bildſäule kann die Perſön- lichkeit auffaſſen in unbewegter Ruhe des in ſich webenden, wurzelnden, geſättigten Charakters, oder in harmloſer Situation, fortgehend zu einer Thätigkeit, die keine Spannung, keinen ernſten Kampf in ſich ſchließt, ſondern bald mehr eigentliches Spiel, bald mehr harmloſe Beſchäftigung iſt, oder in Anfang, Mitte, Ende einer geſpannten Situation, d. h. eines ernſten Kampfes. Die zweite Perſon oder Thier, Ungeheuer wird durch die Phantaſie des Zuſchauers ergänzt. Die Gruppe durchwandelt dieſelben Stufen, nur daß die erſte, die der Ruhe, ſchon ſpezieller be- ſtimmt iſt, indem ſie eine vorangegangene Zuſammenbewegung, Vereini- gung der Figuren vorausſetzt. — Fragt man nun, wie ſich die vorlie- gende Eintheilung zu denen der vorh. §§. verhalte, ſo bleibt es bei der obigen Bemerkung: ſie läuft neben denſelben ganz ſelbſtändig her; Sta- tue und Gruppe, Ruhe, harmloſe und geſpannte Situation können Gott oder Menſch (und Thier), Genre oder Geſchichte darſtellen. Erwägt man aber, daß im tiefſten Sinn alle Bildnerkunſt Götterdarſtellung iſt, ſo er- ſcheint, wie ſchon früher geſagt iſt, hier aber ausdrücklich hervorgeſtellt werden muß, die Statue als der in ſich beſchloſſene, in ſeiner Einheit verharrende, die Gruppe als der in Vielheit aufgelöste und in Hand- lung geſetzte Gott, dort der geſammelte, hier der ausgegoſſene Gottes- geiſt. Wir werden ſehen, wie ſich die Malerei auf die zweite dieſer Be- ſtimmungen wirft. Am reinſten und ſchärfſten tritt ſie ein in jenen Wer- ken, die den Menſchen in Gottgeſendetem tragiſchem Leiden darſtellen, ei- nem Laokoon, einer Nioliden-Gruppe; der entfernte Gott iſt in ſeinem Handeln gegenwärtig. §. 633. Dagegen ſteht der Unterſchied des Materials und der techniſchen Behandlung (§. 540), welcher letztere hier der des Relief, des an die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/136>, abgerufen am 29.04.2024.