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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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als Keim zweier selbständiger gegensätzlicher Stylrichtungen erweisen, einer ächt
malerischen und einer mehr plastischen. Beide verirren sich jedoch, wenn sie
ihr gegenseitiges Recht nicht anerkennen und nichts von einander aufnehmen:
diese fällt in Härte, Frost oder körperlose Gedankenhaftigkeit, jene in form-
lose Unbestimmtheit, ja Objectlosigkeit oder in das Gegentheil, sei es allzu-
scharfe, herbe und unflüssige Wahrheit des Einzelnen bei tiefem Ausdruck, sei
es gehaltlose Nachahmung des Wirklichen, die sich weiterhin in das Gebiet der
falschen Reize verliert. Die Wechselseitigkeit beider Style ist die Lebensbe-
dingung der Malerei; das Ziel, das sie sich immer auf's Neue setzt, ihre
Vereinigung.

1. Der Styl ist der Niederschlag des innern Geistes einer Kunst in
einer bestimmten Art der Formengebung. Für die Malerei läßt sich eine
andere allgemeine Definition ihres obersten Form-Gesetzes nicht aufstellen,
als die, welche der §. gibt, indem er den Begriff des Naturalismus und
Individualismus als derjenigen Mittel aufnimmt, durch welche die vor-
herrschende Tiefe des Ausdrucks zu erzielen ist. Dieser Begriff ist in der
Lehre von der Plastik als Gegentheil des in dieser Kunst herrschenden
Formengesetzes bei der Behandlung der menschlichen Gestalt aufgeführt
(§. 616). Dieses selbst wurde als das Gesetz völliger und zugleich scharf
bestimmter Formen, einfacher, wenig gebrochener, schwungvoller Umrisse
bestimmt (§. 614) und daraus die Forderung gattungsgemäß normal ent-
wickelter Naturvorbilder und streng idealer Behandlung derselben erst ab-
geleitet. In der Lehre von der Malerei aber läßt sich dem so gefaßten
plastischen Stylgesetze nichts gegenüberstellen, was ebenso bereits die Qua-
lität der Formen näher bezeichnen würde, sondern nur der allgemeinere
Begriff des Naturalistischen und Individualisirenden kann mit der Be-
stimmung, daß es eben die Erhöhung des Ausdrucks sei, worauf diese
Behandlung eben hinzuarbeiten hat, zur Grundformel erhoben werden.
Der bewegliche, farbenglühende, die Dinge in der Wärme ihres Natur-
hauchs, ihres individuellen Geheimnisses und damit in ihrer innersten
Seele erfassende Geist dieser Kunst kennt ja gerade eine strenge Reduction
der Formen nicht; wie diese beschaffen seien, läßt sich erst an den Sphären
des Stoffs im Einzelnen nachweisen und an die Spitze dieser Nachwei-
sung nur ein Begriff setzen, der wenigstens insofern bereits bestimmter
ist, als er unmittelbar in Aussicht stellt, daß sich nun in Aufführung der
einzelnen Gebiete des Stoffs der nähere Charakter der Formengebung aus
ihm ergeben werde, und ebendieß leistet nur der Begriff des Naturalismus
und Individualismus, in welchen der noch allgemeinere des indirecten
Idealismus hier verwandelt ist. Wenn übrigens in der Lehre von der
Plastik diese Bestimmung nur auf die geschlossene menschliche (und thie-

als Keim zweier ſelbſtändiger gegenſätzlicher Stylrichtungen erweiſen, einer ächt
maleriſchen und einer mehr plaſtiſchen. Beide verirren ſich jedoch, wenn ſie
ihr gegenſeitiges Recht nicht anerkennen und nichts von einander aufnehmen:
dieſe fällt in Härte, Froſt oder körperloſe Gedankenhaftigkeit, jene in form-
loſe Unbeſtimmtheit, ja Objectloſigkeit oder in das Gegentheil, ſei es allzu-
ſcharfe, herbe und unflüſſige Wahrheit des Einzelnen bei tiefem Ausdruck, ſei
es gehaltloſe Nachahmung des Wirklichen, die ſich weiterhin in das Gebiet der
falſchen Reize verliert. Die Wechſelſeitigkeit beider Style iſt die Lebensbe-
dingung der Malerei; das Ziel, das ſie ſich immer auf’s Neue ſetzt, ihre
Vereinigung.

1. Der Styl iſt der Niederſchlag des innern Geiſtes einer Kunſt in
einer beſtimmten Art der Formengebung. Für die Malerei läßt ſich eine
andere allgemeine Definition ihres oberſten Form-Geſetzes nicht aufſtellen,
als die, welche der §. gibt, indem er den Begriff des Naturaliſmus und
Individualiſmus als derjenigen Mittel aufnimmt, durch welche die vor-
herrſchende Tiefe des Ausdrucks zu erzielen iſt. Dieſer Begriff iſt in der
Lehre von der Plaſtik als Gegentheil des in dieſer Kunſt herrſchenden
Formengeſetzes bei der Behandlung der menſchlichen Geſtalt aufgeführt
(§. 616). Dieſes ſelbſt wurde als das Geſetz völliger und zugleich ſcharf
beſtimmter Formen, einfacher, wenig gebrochener, ſchwungvoller Umriſſe
beſtimmt (§. 614) und daraus die Forderung gattungsgemäß normal ent-
wickelter Naturvorbilder und ſtreng idealer Behandlung derſelben erſt ab-
geleitet. In der Lehre von der Malerei aber läßt ſich dem ſo gefaßten
plaſtiſchen Stylgeſetze nichts gegenüberſtellen, was ebenſo bereits die Qua-
lität der Formen näher bezeichnen würde, ſondern nur der allgemeinere
Begriff des Naturaliſtiſchen und Individualiſirenden kann mit der Be-
ſtimmung, daß es eben die Erhöhung des Ausdrucks ſei, worauf dieſe
Behandlung eben hinzuarbeiten hat, zur Grundformel erhoben werden.
Der bewegliche, farbenglühende, die Dinge in der Wärme ihres Natur-
hauchs, ihres individuellen Geheimniſſes und damit in ihrer innerſten
Seele erfaſſende Geiſt dieſer Kunſt kennt ja gerade eine ſtrenge Reduction
der Formen nicht; wie dieſe beſchaffen ſeien, läßt ſich erſt an den Sphären
des Stoffs im Einzelnen nachweiſen und an die Spitze dieſer Nachwei-
ſung nur ein Begriff ſetzen, der wenigſtens inſofern bereits beſtimmter
iſt, als er unmittelbar in Ausſicht ſtellt, daß ſich nun in Aufführung der
einzelnen Gebiete des Stoffs der nähere Charakter der Formengebung aus
ihm ergeben werde, und ebendieß leiſtet nur der Begriff des Naturaliſmus
und Individualiſmus, in welchen der noch allgemeinere des indirecten
Idealiſmus hier verwandelt iſt. Wenn übrigens in der Lehre von der
Plaſtik dieſe Beſtimmung nur auf die geſchloſſene menſchliche (und thie-

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[578/0086] als Keim zweier ſelbſtändiger gegenſätzlicher Stylrichtungen erweiſen, einer ächt maleriſchen und einer mehr plaſtiſchen. Beide verirren ſich jedoch, wenn ſie ihr gegenſeitiges Recht nicht anerkennen und nichts von einander aufnehmen: dieſe fällt in Härte, Froſt oder körperloſe Gedankenhaftigkeit, jene in form- loſe Unbeſtimmtheit, ja Objectloſigkeit oder in das Gegentheil, ſei es allzu- ſcharfe, herbe und unflüſſige Wahrheit des Einzelnen bei tiefem Ausdruck, ſei es gehaltloſe Nachahmung des Wirklichen, die ſich weiterhin in das Gebiet der falſchen Reize verliert. Die Wechſelſeitigkeit beider Style iſt die Lebensbe- dingung der Malerei; das Ziel, das ſie ſich immer auf’s Neue ſetzt, ihre Vereinigung. 1. Der Styl iſt der Niederſchlag des innern Geiſtes einer Kunſt in einer beſtimmten Art der Formengebung. Für die Malerei läßt ſich eine andere allgemeine Definition ihres oberſten Form-Geſetzes nicht aufſtellen, als die, welche der §. gibt, indem er den Begriff des Naturaliſmus und Individualiſmus als derjenigen Mittel aufnimmt, durch welche die vor- herrſchende Tiefe des Ausdrucks zu erzielen iſt. Dieſer Begriff iſt in der Lehre von der Plaſtik als Gegentheil des in dieſer Kunſt herrſchenden Formengeſetzes bei der Behandlung der menſchlichen Geſtalt aufgeführt (§. 616). Dieſes ſelbſt wurde als das Geſetz völliger und zugleich ſcharf beſtimmter Formen, einfacher, wenig gebrochener, ſchwungvoller Umriſſe beſtimmt (§. 614) und daraus die Forderung gattungsgemäß normal ent- wickelter Naturvorbilder und ſtreng idealer Behandlung derſelben erſt ab- geleitet. In der Lehre von der Malerei aber läßt ſich dem ſo gefaßten plaſtiſchen Stylgeſetze nichts gegenüberſtellen, was ebenſo bereits die Qua- lität der Formen näher bezeichnen würde, ſondern nur der allgemeinere Begriff des Naturaliſtiſchen und Individualiſirenden kann mit der Be- ſtimmung, daß es eben die Erhöhung des Ausdrucks ſei, worauf dieſe Behandlung eben hinzuarbeiten hat, zur Grundformel erhoben werden. Der bewegliche, farbenglühende, die Dinge in der Wärme ihres Natur- hauchs, ihres individuellen Geheimniſſes und damit in ihrer innerſten Seele erfaſſende Geiſt dieſer Kunſt kennt ja gerade eine ſtrenge Reduction der Formen nicht; wie dieſe beſchaffen ſeien, läßt ſich erſt an den Sphären des Stoffs im Einzelnen nachweiſen und an die Spitze dieſer Nachwei- ſung nur ein Begriff ſetzen, der wenigſtens inſofern bereits beſtimmter iſt, als er unmittelbar in Ausſicht ſtellt, daß ſich nun in Aufführung der einzelnen Gebiete des Stoffs der nähere Charakter der Formengebung aus ihm ergeben werde, und ebendieß leiſtet nur der Begriff des Naturaliſmus und Individualiſmus, in welchen der noch allgemeinere des indirecten Idealiſmus hier verwandelt iſt. Wenn übrigens in der Lehre von der Plaſtik dieſe Beſtimmung nur auf die geſchloſſene menſchliche (und thie-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/86>, abgerufen am 27.04.2024.