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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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wir wollen zwar von der Harmonie nicht blos dieses, weil wir wissen,
daß sie noch Weiteres leisten kann, aber wir müssen anerkennen, daß auch
diese direct ideale, klare und weiche Harmonie eine für sich bestehende und
berechtigte Kunstform bildet, in welcher das unterscheidende ideale Wesen
der Musik den übrigen Künsten gegenüber zu seinem eigentlichsten Ausdruck
gelangt.

3. Ein Gegner der Harmonie war J. J. Rousseau; er sprach den
Verdacht aus, alle Harmonie sei am Ende nur eine gothische barbarische
Erfindung, die gar nie gemacht worden wäre, wenn die neuern Völker
mehr Gefühl für die wahren Schönheiten der Kunst, für wahrhaft natür-
liche und rührende Musik besäßen, wie die feingebildeten Griechen, deren
Musik ohne Harmonie so wunderbare, unsere dagegen mit Harmonie so
schwache Wirkungen gehabt habe. Daß in einem Lande wie Frankreich,
das allerdings (von Volksgesängen abgesehen) nicht Heimath wahrhaft
natürlicher und rührender Musik ist, und in einem Jahrhunderte, wie das
vorige, in welchem allerdings Rückkehr von übertriebenem Cultus der Har-
monie zur melodischen Einfachheit noth that, von einem Manne, der überall
das Recht des unmittelbaren Gefühls vertrat, solche Ansichten aufgestellt
wurden, kann nicht auffallen. Nur auf Eines hätte R. sich nicht berufen
sollen, auf die griechische Musik. Sah denn er, der Mann der individuellen
Freiheit, nicht, welch großer Fortschritt zur Freiheit darin liegt, daß mittelst
der Harmonie innerhalb mehrstimmigen Gesangs jede Einzelstimme ihren
eigenen Weg gehen, selbständig neben und mit den andern singen, selbst-
thätig zu vollerer, großartigerer Gestaltung des Ganzen mitwirken kann?
Einstimmigkeit löst alle Individualität in's Ganze auf, läßt alle persön-
lichen Unterschiede im Allgemeinen aufgehen, bringt aber ebenhiemit doch
nur ein unterschiedsloses, wenig gegliedertes Ganzes von wenig Ballast
und Volumen, von wenig Gewicht und Umfang hervor, ganz wie der
griechische Staat, der groß war durch das Aufgehen der Individuen im
Ganzen und klein war durch die fehlende Ausbildung der individuellen
Lebenskreise. Man sagt, in rein germanischen Ländern singe das Volk
überall mehrstimmig, in romanischen in der Regel einstimmig; was läge
darin Anderes als der Unterschied des germanischen Sinnes für Individua-
lität, der auch im Singen selbständig sein will und nur an einem durch
Sonderung der Stimmen individuell belebten Gesange Freude empfindet,
vom romanischen Charakter, der zu dieser Hochhaltung der Individualität
nie gekommen ist? Ebenso ist diese Vorliebe des germanischen Geistes für
Harmonie wesentlich begründet nicht, wie Rousseau meint, in den groben
und stumpfen Organen dieses nordischen Volkes, die mehr durch Stärke
und Getöse der Stimmen als durch die Süßigkeit der Accente und die
Biegungen der Melodie gerührt werden müssen -- Harmonie und Gebrüll

wir wollen zwar von der Harmonie nicht blos dieſes, weil wir wiſſen,
daß ſie noch Weiteres leiſten kann, aber wir müſſen anerkennen, daß auch
dieſe direct ideale, klare und weiche Harmonie eine für ſich beſtehende und
berechtigte Kunſtform bildet, in welcher das unterſcheidende ideale Weſen
der Muſik den übrigen Künſten gegenüber zu ſeinem eigentlichſten Ausdruck
gelangt.

3. Ein Gegner der Harmonie war J. J. Rouſſeau; er ſprach den
Verdacht aus, alle Harmonie ſei am Ende nur eine gothiſche barbariſche
Erfindung, die gar nie gemacht worden wäre, wenn die neuern Völker
mehr Gefühl für die wahren Schönheiten der Kunſt, für wahrhaft natür-
liche und rührende Muſik beſäßen, wie die feingebildeten Griechen, deren
Muſik ohne Harmonie ſo wunderbare, unſere dagegen mit Harmonie ſo
ſchwache Wirkungen gehabt habe. Daß in einem Lande wie Frankreich,
das allerdings (von Volksgeſängen abgeſehen) nicht Heimath wahrhaft
natürlicher und rührender Muſik iſt, und in einem Jahrhunderte, wie das
vorige, in welchem allerdings Rückkehr von übertriebenem Cultus der Har-
monie zur melodiſchen Einfachheit noth that, von einem Manne, der überall
das Recht des unmittelbaren Gefühls vertrat, ſolche Anſichten aufgeſtellt
wurden, kann nicht auffallen. Nur auf Eines hätte R. ſich nicht berufen
ſollen, auf die griechiſche Muſik. Sah denn er, der Mann der individuellen
Freiheit, nicht, welch großer Fortſchritt zur Freiheit darin liegt, daß mittelſt
der Harmonie innerhalb mehrſtimmigen Geſangs jede Einzelſtimme ihren
eigenen Weg gehen, ſelbſtändig neben und mit den andern ſingen, ſelbſt-
thätig zu vollerer, großartigerer Geſtaltung des Ganzen mitwirken kann?
Einſtimmigkeit löst alle Individualität in’s Ganze auf, läßt alle perſön-
lichen Unterſchiede im Allgemeinen aufgehen, bringt aber ebenhiemit doch
nur ein unterſchiedsloſes, wenig gegliedertes Ganzes von wenig Ballaſt
und Volumen, von wenig Gewicht und Umfang hervor, ganz wie der
griechiſche Staat, der groß war durch das Aufgehen der Individuen im
Ganzen und klein war durch die fehlende Ausbildung der individuellen
Lebenskreiſe. Man ſagt, in rein germaniſchen Ländern ſinge das Volk
überall mehrſtimmig, in romaniſchen in der Regel einſtimmig; was läge
darin Anderes als der Unterſchied des germaniſchen Sinnes für Individua-
lität, der auch im Singen ſelbſtändig ſein will und nur an einem durch
Sonderung der Stimmen individuell belebten Geſange Freude empfindet,
vom romaniſchen Charakter, der zu dieſer Hochhaltung der Individualität
nie gekommen iſt? Ebenſo iſt dieſe Vorliebe des germaniſchen Geiſtes für
Harmonie weſentlich begründet nicht, wie Rouſſeau meint, in den groben
und ſtumpfen Organen dieſes nordiſchen Volkes, die mehr durch Stärke
und Getöſe der Stimmen als durch die Süßigkeit der Accente und die
Biegungen der Melodie gerührt werden müſſen — Harmonie und Gebrüll

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[899/0137] wir wollen zwar von der Harmonie nicht blos dieſes, weil wir wiſſen, daß ſie noch Weiteres leiſten kann, aber wir müſſen anerkennen, daß auch dieſe direct ideale, klare und weiche Harmonie eine für ſich beſtehende und berechtigte Kunſtform bildet, in welcher das unterſcheidende ideale Weſen der Muſik den übrigen Künſten gegenüber zu ſeinem eigentlichſten Ausdruck gelangt. 3. Ein Gegner der Harmonie war J. J. Rouſſeau; er ſprach den Verdacht aus, alle Harmonie ſei am Ende nur eine gothiſche barbariſche Erfindung, die gar nie gemacht worden wäre, wenn die neuern Völker mehr Gefühl für die wahren Schönheiten der Kunſt, für wahrhaft natür- liche und rührende Muſik beſäßen, wie die feingebildeten Griechen, deren Muſik ohne Harmonie ſo wunderbare, unſere dagegen mit Harmonie ſo ſchwache Wirkungen gehabt habe. Daß in einem Lande wie Frankreich, das allerdings (von Volksgeſängen abgeſehen) nicht Heimath wahrhaft natürlicher und rührender Muſik iſt, und in einem Jahrhunderte, wie das vorige, in welchem allerdings Rückkehr von übertriebenem Cultus der Har- monie zur melodiſchen Einfachheit noth that, von einem Manne, der überall das Recht des unmittelbaren Gefühls vertrat, ſolche Anſichten aufgeſtellt wurden, kann nicht auffallen. Nur auf Eines hätte R. ſich nicht berufen ſollen, auf die griechiſche Muſik. Sah denn er, der Mann der individuellen Freiheit, nicht, welch großer Fortſchritt zur Freiheit darin liegt, daß mittelſt der Harmonie innerhalb mehrſtimmigen Geſangs jede Einzelſtimme ihren eigenen Weg gehen, ſelbſtändig neben und mit den andern ſingen, ſelbſt- thätig zu vollerer, großartigerer Geſtaltung des Ganzen mitwirken kann? Einſtimmigkeit löst alle Individualität in’s Ganze auf, läßt alle perſön- lichen Unterſchiede im Allgemeinen aufgehen, bringt aber ebenhiemit doch nur ein unterſchiedsloſes, wenig gegliedertes Ganzes von wenig Ballaſt und Volumen, von wenig Gewicht und Umfang hervor, ganz wie der griechiſche Staat, der groß war durch das Aufgehen der Individuen im Ganzen und klein war durch die fehlende Ausbildung der individuellen Lebenskreiſe. Man ſagt, in rein germaniſchen Ländern ſinge das Volk überall mehrſtimmig, in romaniſchen in der Regel einſtimmig; was läge darin Anderes als der Unterſchied des germaniſchen Sinnes für Individua- lität, der auch im Singen ſelbſtändig ſein will und nur an einem durch Sonderung der Stimmen individuell belebten Geſange Freude empfindet, vom romaniſchen Charakter, der zu dieſer Hochhaltung der Individualität nie gekommen iſt? Ebenſo iſt dieſe Vorliebe des germaniſchen Geiſtes für Harmonie weſentlich begründet nicht, wie Rouſſeau meint, in den groben und ſtumpfen Organen dieſes nordiſchen Volkes, die mehr durch Stärke und Getöſe der Stimmen als durch die Süßigkeit der Accente und die Biegungen der Melodie gerührt werden müſſen — Harmonie und Gebrüll

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 899. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/137>, abgerufen am 16.04.2024.