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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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tectonische Element der Tonkunst. Er bringt in das freie Spiel der
Töne einmal Proportion, Symmetrie, durch welche es zu einer geordneten
Tonreihe mit klarem Verlaufe gestaltet wird. Er bringt in dasselbe ferner
einen bestimmten Bewegungstypus, er gibt verschiedene Bewegungsformen
her, innerhalb welcher die ganze allmälig hervortretende Tonreihe zu einem
gleichmäßig geformten Ganzen gleichsam anschießt, wie eine nach gleich-
förmigem Typus sich krystallisirende Masse. Und zwar ist dieser Bewegungs-
charakter dabei doch ein außerordentlich mannigfacher, indem der Rhythmus
einem Tonwerk das Gepräge der reinsten Ruhe in der Bewegung auf-
drücken, ebenso aber auch die lebendigste, bis zum Stürmischen fortgehende
Erregung in dasselbe bringen, wie beruhigend, so auch im höchsten Grad
aufregend wirken kann. Nicht minder mannigfaltig bei aller strengen
Regelmäßigkeit ist die Gliederung der Tonbewegung, welche durch die
musikalische Rhythmik ermöglicht wird. Sie erlaubt den mannigfachsten
Wechsel der Tonlängen, sie gestattet ohne irgend Beeinträchtigung der
Gesetzmäßigkeit des Fortgangs jeden Augenblick den Uebergang vom lang-
samen zum schnellen Zeitmaaß, sie ermöglicht überall die Einschiebung
kleinerer kürzerer Zwischenglieder zwischen größere und längere, womit sie
allerdings über die Architectur hinausgeht, die auch die Einfügung kleinerer
Glieder in regelmäßiger Wiederkehr verlangt, sie gestattet ferner überall eine
mathematischlogisch strenge und doch mannigfaltigste Subsumtion kleinerer
Glieder unter größere, sie läßt in mehrstimmiger Musik die eine Stimme
im 2-, 3-, 6fach verstärktem Geschwindigkeitsmaaß die andere begleiten, sie
läßt verschiedene Bewegungsverhältnisse neben einander hergehen und doch
Ein Ganzes mit einander bilden, sie läßt bald eine langsamere Tonreihe
über einer schnelleren sich aufbauen, bald umgekehrt, sie läßt ebenso auch
die Reihen ganz mit einander vorschreiten, sie setzt gleichsam mehrere, sei
es nun gleich oder verschieden gegliederte und doch in Länge oder Breite
einander vollkommen entsprechende Stockwerke über einander, und auch
dieses mit einer Freiheit, mit einer unabsehbaren Künstlichkeit und Mannig-
faltigkeit, die in der Kunst sonst kaum ihres Gleichen hat. Der Rhythmus
bindet, ordnet, charakterisirt, belebt, gliedert den freien Gang der melodischen
Bewegung, er verknüpft mit ihr die Harmonie in verschiedenster Weise;
er ist nach allen Seiten das formulirende Prinzip, das die verschiedenen
Elemente des Tonmaterials fest gestaltet und unter einander zusammenhält.
Der Rhythmus vertritt daher vorzugsweise das Prinzip des directen
Idealismus
in der Musik, er ermöglicht feste gediegene Formen, er kann
durch einfache Gemessenheit des Gangs zum Ernst, zur Würde, zur Er-
habenheit des Eindrucks oft wunderbar mitwirken, er hält die Bewegung
in Maaß und Schranke, ja er verbirgt sie fast, wenn er recht gleichmäßig
ist, er bringt dann jenen Eindruck ruhiger, besonnener Haltung des Ganzen

tectoniſche Element der Tonkunſt. Er bringt in das freie Spiel der
Töne einmal Proportion, Symmetrie, durch welche es zu einer geordneten
Tonreihe mit klarem Verlaufe geſtaltet wird. Er bringt in daſſelbe ferner
einen beſtimmten Bewegungstypus, er gibt verſchiedene Bewegungsformen
her, innerhalb welcher die ganze allmälig hervortretende Tonreihe zu einem
gleichmäßig geformten Ganzen gleichſam anſchießt, wie eine nach gleich-
förmigem Typus ſich kryſtalliſirende Maſſe. Und zwar iſt dieſer Bewegungs-
charakter dabei doch ein außerordentlich mannigfacher, indem der Rhythmus
einem Tonwerk das Gepräge der reinſten Ruhe in der Bewegung auf-
drücken, ebenſo aber auch die lebendigſte, bis zum Stürmiſchen fortgehende
Erregung in daſſelbe bringen, wie beruhigend, ſo auch im höchſten Grad
aufregend wirken kann. Nicht minder mannigfaltig bei aller ſtrengen
Regelmäßigkeit iſt die Gliederung der Tonbewegung, welche durch die
muſikaliſche Rhythmik ermöglicht wird. Sie erlaubt den mannigfachſten
Wechſel der Tonlängen, ſie geſtattet ohne irgend Beeinträchtigung der
Geſetzmäßigkeit des Fortgangs jeden Augenblick den Uebergang vom lang-
ſamen zum ſchnellen Zeitmaaß, ſie ermöglicht überall die Einſchiebung
kleinerer kürzerer Zwiſchenglieder zwiſchen größere und längere, womit ſie
allerdings über die Architectur hinausgeht, die auch die Einfügung kleinerer
Glieder in regelmäßiger Wiederkehr verlangt, ſie geſtattet ferner überall eine
mathematiſchlogiſch ſtrenge und doch mannigfaltigſte Subſumtion kleinerer
Glieder unter größere, ſie läßt in mehrſtimmiger Muſik die eine Stimme
im 2-, 3-, 6fach verſtärktem Geſchwindigkeitsmaaß die andere begleiten, ſie
läßt verſchiedene Bewegungsverhältniſſe neben einander hergehen und doch
Ein Ganzes mit einander bilden, ſie läßt bald eine langſamere Tonreihe
über einer ſchnelleren ſich aufbauen, bald umgekehrt, ſie läßt ebenſo auch
die Reihen ganz mit einander vorſchreiten, ſie ſetzt gleichſam mehrere, ſei
es nun gleich oder verſchieden gegliederte und doch in Länge oder Breite
einander vollkommen entſprechende Stockwerke über einander, und auch
dieſes mit einer Freiheit, mit einer unabſehbaren Künſtlichkeit und Mannig-
faltigkeit, die in der Kunſt ſonſt kaum ihres Gleichen hat. Der Rhythmus
bindet, ordnet, charakteriſirt, belebt, gliedert den freien Gang der melodiſchen
Bewegung, er verknüpft mit ihr die Harmonie in verſchiedenſter Weiſe;
er iſt nach allen Seiten das formulirende Prinzip, das die verſchiedenen
Elemente des Tonmaterials feſt geſtaltet und unter einander zuſammenhält.
Der Rhythmus vertritt daher vorzugsweiſe das Prinzip des directen
Idealiſmus
in der Muſik, er ermöglicht feſte gediegene Formen, er kann
durch einfache Gemeſſenheit des Gangs zum Ernſt, zur Würde, zur Er-
habenheit des Eindrucks oft wunderbar mitwirken, er hält die Bewegung
in Maaß und Schranke, ja er verbirgt ſie faſt, wenn er recht gleichmäßig
iſt, er bringt dann jenen Eindruck ruhiger, beſonnener Haltung des Ganzen

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[910/0148] tectoniſche Element der Tonkunſt. Er bringt in das freie Spiel der Töne einmal Proportion, Symmetrie, durch welche es zu einer geordneten Tonreihe mit klarem Verlaufe geſtaltet wird. Er bringt in daſſelbe ferner einen beſtimmten Bewegungstypus, er gibt verſchiedene Bewegungsformen her, innerhalb welcher die ganze allmälig hervortretende Tonreihe zu einem gleichmäßig geformten Ganzen gleichſam anſchießt, wie eine nach gleich- förmigem Typus ſich kryſtalliſirende Maſſe. Und zwar iſt dieſer Bewegungs- charakter dabei doch ein außerordentlich mannigfacher, indem der Rhythmus einem Tonwerk das Gepräge der reinſten Ruhe in der Bewegung auf- drücken, ebenſo aber auch die lebendigſte, bis zum Stürmiſchen fortgehende Erregung in daſſelbe bringen, wie beruhigend, ſo auch im höchſten Grad aufregend wirken kann. Nicht minder mannigfaltig bei aller ſtrengen Regelmäßigkeit iſt die Gliederung der Tonbewegung, welche durch die muſikaliſche Rhythmik ermöglicht wird. Sie erlaubt den mannigfachſten Wechſel der Tonlängen, ſie geſtattet ohne irgend Beeinträchtigung der Geſetzmäßigkeit des Fortgangs jeden Augenblick den Uebergang vom lang- ſamen zum ſchnellen Zeitmaaß, ſie ermöglicht überall die Einſchiebung kleinerer kürzerer Zwiſchenglieder zwiſchen größere und längere, womit ſie allerdings über die Architectur hinausgeht, die auch die Einfügung kleinerer Glieder in regelmäßiger Wiederkehr verlangt, ſie geſtattet ferner überall eine mathematiſchlogiſch ſtrenge und doch mannigfaltigſte Subſumtion kleinerer Glieder unter größere, ſie läßt in mehrſtimmiger Muſik die eine Stimme im 2-, 3-, 6fach verſtärktem Geſchwindigkeitsmaaß die andere begleiten, ſie läßt verſchiedene Bewegungsverhältniſſe neben einander hergehen und doch Ein Ganzes mit einander bilden, ſie läßt bald eine langſamere Tonreihe über einer ſchnelleren ſich aufbauen, bald umgekehrt, ſie läßt ebenſo auch die Reihen ganz mit einander vorſchreiten, ſie ſetzt gleichſam mehrere, ſei es nun gleich oder verſchieden gegliederte und doch in Länge oder Breite einander vollkommen entſprechende Stockwerke über einander, und auch dieſes mit einer Freiheit, mit einer unabſehbaren Künſtlichkeit und Mannig- faltigkeit, die in der Kunſt ſonſt kaum ihres Gleichen hat. Der Rhythmus bindet, ordnet, charakteriſirt, belebt, gliedert den freien Gang der melodiſchen Bewegung, er verknüpft mit ihr die Harmonie in verſchiedenſter Weiſe; er iſt nach allen Seiten das formulirende Prinzip, das die verſchiedenen Elemente des Tonmaterials feſt geſtaltet und unter einander zuſammenhält. Der Rhythmus vertritt daher vorzugsweiſe das Prinzip des directen Idealiſmus in der Muſik, er ermöglicht feſte gediegene Formen, er kann durch einfache Gemeſſenheit des Gangs zum Ernſt, zur Würde, zur Er- habenheit des Eindrucks oft wunderbar mitwirken, er hält die Bewegung in Maaß und Schranke, ja er verbirgt ſie faſt, wenn er recht gleichmäßig iſt, er bringt dann jenen Eindruck ruhiger, beſonnener Haltung des Ganzen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 910. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/148>, abgerufen am 26.04.2024.