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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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§. 782.

Die relative Selbständigkeit der verschiedenen Stimmen kann zunächst dazu
fortschreiten, daß die einseitige Unterordnung der einen unter die andere auf-
hört und die Einzelstimmen in der Art mit einander verknüpft und ver-
flochten
werden, daß keine Stimme für sich allein, sondern nur sie zusammen
eine fortschreitende Tonfolge bilden.

Den directen Uebergang von der Homophonie zur Polyphonie
bildet die Zusammensetzung der Tonfolge eines Stücks aus zwei oder
mehreren Stimmen, deren keine für sich allein den Fortgang des Ganzen
vertritt, indem vielmehr jede nur mit einer oder mehreren andern Stimmen
zusammen Melodie ist und zur melodischen Bewegung der ganzen Tonmasse
ihren Beitrag gibt. Der nächste Schritt dazu, der Homophonie eine con-
cretere Gestaltung der Stimmführung entgegenzusetzen, ist offenbar der, die
absolute Selbständigkeit einer einzelnen Stimme einfach aufzuheben und die
Stimmen so untereinander zu verbinden, daß eben nur diese Verbindung
von Stimmen, deren jede gleichsam blos ein Bruchtheil, einen kleinern
Ansatz oder ein größeres Fragment von Melodie darstellt, dem Ganzen
melodischen Charakter verleiht. Die einfachere Form dieser Verknüpfung
der Stimmen ist, wenn sie nach einander, sich gegenseitig antwortend und
ergänzend, auftreten, indem z. B. der zuerst angeschlagenen Baßstimme eine
(anders geformte, aber ihr entsprechende) Oberstimme antwortet. Die Auf-
hebung der absoluten Selbständigkeit der Einzelstimme hat hier noch nicht
den höchsten Grad erreicht, da jede, obwohl sie für sich kein fortlaufendes
vollständiges melodisches Ganzes ist, doch ihren eigenen melodischen Gang
hat. Eine verwickeltere concretere Gestalt nimmt dagegen die Verbindung
der Stimmen an, wenn sie zur Verflechtung oder Verwebung wird. Hier
(wie z. B. gleich nach dem Anfang der Ouvertüre zu Gluck's Iphigenie in
Aulis) ertönen die verschiedenen Stimmen zugleich, jede mit melodischem
oder melodiösem Gang, aber doch jede in wesentlicher Beziehung auf die
andere, so daß der melodische Fortschritt immer in beiden zugleich liegt;
keine Stimme ist vollständig, für sich Sinn gebend ohne die Ergänzung
durch die zugleich mittönende andere; beide zusammen nehmen den Faden des
melodischen Fortschritts nicht blos abwechselnd nach einander auf, sondern
führen ihn zu gleicher Zeit weiter; die eine Stimme setzt den Gang der
andern nicht blos fort, sondern greift in ihn ein, motivirt und bedingt ihn,
so daß er ohne diese mittönende Stimme gar nicht verständlich ist. Es
findet hier nicht mehr eine Ergänzung in der Weise des Nacheinanders,
sondern des Ineinanders statt, ein Verhältniß der Wechselwirkung; die
Stimmen sind hier Glieder, die erst zusammen ein organisches Ganzes
ausmachen. Wegen dieser engen Beziehung zu einander treten hier zugleich

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§. 782.

Die relative Selbſtändigkeit der verſchiedenen Stimmen kann zunächſt dazu
fortſchreiten, daß die einſeitige Unterordnung der einen unter die andere auf-
hört und die Einzelſtimmen in der Art mit einander verknüpft und ver-
flochten
werden, daß keine Stimme für ſich allein, ſondern nur ſie zuſammen
eine fortſchreitende Tonfolge bilden.

Den directen Uebergang von der Homophonie zur Polyphonie
bildet die Zuſammenſetzung der Tonfolge eines Stücks aus zwei oder
mehreren Stimmen, deren keine für ſich allein den Fortgang des Ganzen
vertritt, indem vielmehr jede nur mit einer oder mehreren andern Stimmen
zuſammen Melodie iſt und zur melodiſchen Bewegung der ganzen Tonmaſſe
ihren Beitrag gibt. Der nächſte Schritt dazu, der Homophonie eine con-
cretere Geſtaltung der Stimmführung entgegenzuſetzen, iſt offenbar der, die
abſolute Selbſtändigkeit einer einzelnen Stimme einfach aufzuheben und die
Stimmen ſo untereinander zu verbinden, daß eben nur dieſe Verbindung
von Stimmen, deren jede gleichſam blos ein Bruchtheil, einen kleinern
Anſatz oder ein größeres Fragment von Melodie darſtellt, dem Ganzen
melodiſchen Charakter verleiht. Die einfachere Form dieſer Verknüpfung
der Stimmen iſt, wenn ſie nach einander, ſich gegenſeitig antwortend und
ergänzend, auftreten, indem z. B. der zuerſt angeſchlagenen Baßſtimme eine
(anders geformte, aber ihr entſprechende) Oberſtimme antwortet. Die Auf-
hebung der abſoluten Selbſtändigkeit der Einzelſtimme hat hier noch nicht
den höchſten Grad erreicht, da jede, obwohl ſie für ſich kein fortlaufendes
vollſtändiges melodiſches Ganzes iſt, doch ihren eigenen melodiſchen Gang
hat. Eine verwickeltere concretere Geſtalt nimmt dagegen die Verbindung
der Stimmen an, wenn ſie zur Verflechtung oder Verwebung wird. Hier
(wie z. B. gleich nach dem Anfang der Ouvertüre zu Gluck’s Iphigenie in
Aulis) ertönen die verſchiedenen Stimmen zugleich, jede mit melodiſchem
oder melodiöſem Gang, aber doch jede in weſentlicher Beziehung auf die
andere, ſo daß der melodiſche Fortſchritt immer in beiden zugleich liegt;
keine Stimme iſt vollſtändig, für ſich Sinn gebend ohne die Ergänzung
durch die zugleich mittönende andere; beide zuſammen nehmen den Faden des
melodiſchen Fortſchritts nicht blos abwechſelnd nach einander auf, ſondern
führen ihn zu gleicher Zeit weiter; die eine Stimme ſetzt den Gang der
andern nicht blos fort, ſondern greift in ihn ein, motivirt und bedingt ihn,
ſo daß er ohne dieſe mittönende Stimme gar nicht verſtändlich iſt. Es
findet hier nicht mehr eine Ergänzung in der Weiſe des Nacheinanders,
ſondern des Ineinanders ſtatt, ein Verhältniß der Wechſelwirkung; die
Stimmen ſind hier Glieder, die erſt zuſammen ein organiſches Ganzes
ausmachen. Wegen dieſer engen Beziehung zu einander treten hier zugleich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 937. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/175>, abgerufen am 16.04.2024.