Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

kann fehlen, und die streng polyphone Form ist daher hier, wo es sich um
größere melodische Sätze oder um ganze Melodieen handelt, nur die Ver-
flechtung, welche die selbständigen Sätze nicht mit einander abwechseln,
sondern zusammentönen und sie doch in ihrer Selbständigkeit sich behaupten
läßt. Passend ist der für solche Verflechtungen mehrerer Melodieen gang-
bare Name Contrapunct; es stehen hier wirklich Reihen gegen Reihen,
durch eigenthümlichen Gang und durch eigenthümlichen Rhythmus, der sie
aus einander hält, von einander geschieden, jede ein Ganzes für sich, aber
doch jede vollkommen charakteristisch und bedeutend nur in ihrer Verbindung
mit der ihr gegenüberstehenden. Wie überhaupt die Harmonie das malerische
Element der Musik vertritt, so insbesondere dann, wenn sie zum Contra-
punct sich fortbildet; es treten selbständige Gestalten neben einander, aber
in strenger gegenseitiger Bezogenheit, jede ergänzt und hinwiederum nach
ihrer besondern Eigenthümlichkeit in's Licht gesetzt durch die andere, beide
an einander gebunden durch Gleichheit des Umfangs, der Tonart, des
Takts, der Begleitung, wenn solche dabei ist, des allgemeinen Inhalts und
Charakters, und doch jede sich entschieden von der andern trennend in der
spezifischen Richtung oder Bewegung und in der spezielleren rhythmischen
Gliederung. Nur hat der Contrapunct der malerischen Zusammengruppirung
contrastirender Figuren (und ebenso den früher betrachteten Verknüpfungs-
und Verflechtungsformen) gegenüber wiederum die Eigenthümlichkeit, daß
die Selbständigkeit der beiden zusammengeketteten Reihen bei ihm weit fühl-
barer, mit entschieden spannendem Eindruck hervortritt. Wir sehen sie
nicht als ein einfach sich ergänzendes Nebeneinander, sondern wir haben
beide zugleich, wir müssen sie zusammenhören und wir hören daher um so
mehr ihre schlechthinige Verschiedenheit; wir werden, wenn wir beide ver-
folgen wollen, nach verschiedenen Seiten hin distrahirt, es ist, als ob die
Musik, deren Wesen einheitliche Tonverschmelzung ist, diese ihre Natur
aufgeben und in's Gegentheil verkehren wollte; wir fühlen beim Eintreten
einer in größerem Maaßstab durchgeführten contrapunctischen Behandlung
sogleich, daß die gewöhnliche Musik abgebrochen und uns die Aufgabe gestellt
wird, eine ganz andere Musik zu vernehmen, in welcher das ursprüngliche
musikalische Verhältniß der Einheit und der Verschiedenheit umgekehrt ist und
die Verschiedenheit überwiegt über die Einheit, wir sehen den Raum sich
erweitern zu einer Scene, auf der selbständige Gestalten und Kräfte zusammen
und gegen einander agiren, die Lyrik wird zum lyrischen Drama, die Sub-
jectivität geht aus einander zu einer Mehrheit von Subjecten, die in Gegen-
satz und Harmonie zumal ihre Gefühle darstellen. In gewisser Beziehung ist
der Contrapunct freilich auch wiederum eine wesentliche Verwirklichung des
Begriffs der Musik; die bewegte Subjectivität, mit der sie zu thun hat,
kommt hier zu ihrem vollen Recht, sie tritt auf als besondere, neben andern

kann fehlen, und die ſtreng polyphone Form iſt daher hier, wo es ſich um
größere melodiſche Sätze oder um ganze Melodieen handelt, nur die Ver-
flechtung, welche die ſelbſtändigen Sätze nicht mit einander abwechſeln,
ſondern zuſammentönen und ſie doch in ihrer Selbſtändigkeit ſich behaupten
läßt. Paſſend iſt der für ſolche Verflechtungen mehrerer Melodieen gang-
bare Name Contrapunct; es ſtehen hier wirklich Reihen gegen Reihen,
durch eigenthümlichen Gang und durch eigenthümlichen Rhythmus, der ſie
aus einander hält, von einander geſchieden, jede ein Ganzes für ſich, aber
doch jede vollkommen charakteriſtiſch und bedeutend nur in ihrer Verbindung
mit der ihr gegenüberſtehenden. Wie überhaupt die Harmonie das maleriſche
Element der Muſik vertritt, ſo insbeſondere dann, wenn ſie zum Contra-
punct ſich fortbildet; es treten ſelbſtändige Geſtalten neben einander, aber
in ſtrenger gegenſeitiger Bezogenheit, jede ergänzt und hinwiederum nach
ihrer beſondern Eigenthümlichkeit in’s Licht geſetzt durch die andere, beide
an einander gebunden durch Gleichheit des Umfangs, der Tonart, des
Takts, der Begleitung, wenn ſolche dabei iſt, des allgemeinen Inhalts und
Charakters, und doch jede ſich entſchieden von der andern trennend in der
ſpezifiſchen Richtung oder Bewegung und in der ſpezielleren rhythmiſchen
Gliederung. Nur hat der Contrapunct der maleriſchen Zuſammengruppirung
contraſtirender Figuren (und ebenſo den früher betrachteten Verknüpfungs-
und Verflechtungsformen) gegenüber wiederum die Eigenthümlichkeit, daß
die Selbſtändigkeit der beiden zuſammengeketteten Reihen bei ihm weit fühl-
barer, mit entſchieden ſpannendem Eindruck hervortritt. Wir ſehen ſie
nicht als ein einfach ſich ergänzendes Nebeneinander, ſondern wir haben
beide zugleich, wir müſſen ſie zuſammenhören und wir hören daher um ſo
mehr ihre ſchlechthinige Verſchiedenheit; wir werden, wenn wir beide ver-
folgen wollen, nach verſchiedenen Seiten hin distrahirt, es iſt, als ob die
Muſik, deren Weſen einheitliche Tonverſchmelzung iſt, dieſe ihre Natur
aufgeben und in’s Gegentheil verkehren wollte; wir fühlen beim Eintreten
einer in größerem Maaßſtab durchgeführten contrapunctiſchen Behandlung
ſogleich, daß die gewöhnliche Muſik abgebrochen und uns die Aufgabe geſtellt
wird, eine ganz andere Muſik zu vernehmen, in welcher das urſprüngliche
muſikaliſche Verhältniß der Einheit und der Verſchiedenheit umgekehrt iſt und
die Verſchiedenheit überwiegt über die Einheit, wir ſehen den Raum ſich
erweitern zu einer Scene, auf der ſelbſtändige Geſtalten und Kräfte zuſammen
und gegen einander agiren, die Lyrik wird zum lyriſchen Drama, die Sub-
jectivität geht aus einander zu einer Mehrheit von Subjecten, die in Gegen-
ſatz und Harmonie zumal ihre Gefühle darſtellen. In gewiſſer Beziehung iſt
der Contrapunct freilich auch wiederum eine weſentliche Verwirklichung des
Begriffs der Muſik; die bewegte Subjectivität, mit der ſie zu thun hat,
kommt hier zu ihrem vollen Recht, ſie tritt auf als beſondere, neben andern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0177" n="939"/>
kann fehlen, und die &#x017F;treng polyphone Form i&#x017F;t daher hier, wo es &#x017F;ich um<lb/>
größere melodi&#x017F;che Sätze oder um ganze Melodieen handelt, nur die Ver-<lb/>
flechtung, welche die &#x017F;elb&#x017F;tändigen Sätze nicht mit einander abwech&#x017F;eln,<lb/>
&#x017F;ondern zu&#x017F;ammentönen und &#x017F;ie doch in ihrer Selb&#x017F;tändigkeit &#x017F;ich behaupten<lb/>
läßt. Pa&#x017F;&#x017F;end i&#x017F;t der für &#x017F;olche Verflechtungen mehrerer Melodieen gang-<lb/>
bare Name <hi rendition="#g">Contrapunct</hi>; es &#x017F;tehen hier wirklich Reihen gegen Reihen,<lb/>
durch eigenthümlichen Gang und durch eigenthümlichen Rhythmus, der &#x017F;ie<lb/>
aus einander hält, von einander ge&#x017F;chieden, jede ein Ganzes für &#x017F;ich, aber<lb/>
doch jede vollkommen charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch und bedeutend nur in ihrer Verbindung<lb/>
mit der ihr gegenüber&#x017F;tehenden. Wie überhaupt die Harmonie das maleri&#x017F;che<lb/>
Element der Mu&#x017F;ik vertritt, &#x017F;o insbe&#x017F;ondere dann, wenn &#x017F;ie zum Contra-<lb/>
punct &#x017F;ich fortbildet; es treten &#x017F;elb&#x017F;tändige Ge&#x017F;talten neben einander, aber<lb/>
in &#x017F;trenger gegen&#x017F;eitiger Bezogenheit, jede ergänzt und hinwiederum nach<lb/>
ihrer be&#x017F;ondern Eigenthümlichkeit in&#x2019;s Licht ge&#x017F;etzt durch die andere, beide<lb/>
an einander gebunden durch Gleichheit des Umfangs, der Tonart, des<lb/>
Takts, der Begleitung, wenn &#x017F;olche dabei i&#x017F;t, des allgemeinen Inhalts und<lb/>
Charakters, und doch jede &#x017F;ich ent&#x017F;chieden von der andern trennend in der<lb/>
&#x017F;pezifi&#x017F;chen Richtung oder Bewegung und in der &#x017F;pezielleren rhythmi&#x017F;chen<lb/>
Gliederung. Nur hat der Contrapunct der maleri&#x017F;chen Zu&#x017F;ammengruppirung<lb/>
contra&#x017F;tirender Figuren (und eben&#x017F;o den früher betrachteten Verknüpfungs-<lb/>
und Verflechtungsformen) gegenüber wiederum die Eigenthümlichkeit, daß<lb/>
die Selb&#x017F;tändigkeit der beiden zu&#x017F;ammengeketteten Reihen bei ihm weit fühl-<lb/>
barer, mit ent&#x017F;chieden <hi rendition="#g">&#x017F;pannendem</hi> Eindruck hervortritt. Wir &#x017F;ehen &#x017F;ie<lb/>
nicht als ein einfach &#x017F;ich ergänzendes Nebeneinander, &#x017F;ondern wir haben<lb/>
beide zugleich, wir mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie zu&#x017F;ammenhören und wir hören daher um &#x017F;o<lb/>
mehr ihre &#x017F;chlechthinige Ver&#x017F;chiedenheit; wir werden, wenn wir beide ver-<lb/>
folgen wollen, nach ver&#x017F;chiedenen Seiten hin distrahirt, es i&#x017F;t, als ob die<lb/>
Mu&#x017F;ik, deren We&#x017F;en einheitliche Tonver&#x017F;chmelzung i&#x017F;t, die&#x017F;e ihre Natur<lb/>
aufgeben und in&#x2019;s Gegentheil verkehren wollte; wir fühlen beim Eintreten<lb/>
einer in größerem Maaß&#x017F;tab durchgeführten contrapuncti&#x017F;chen Behandlung<lb/>
&#x017F;ogleich, daß die gewöhnliche Mu&#x017F;ik abgebrochen und uns die Aufgabe ge&#x017F;tellt<lb/>
wird, eine ganz andere Mu&#x017F;ik zu vernehmen, in welcher das ur&#x017F;prüngliche<lb/>
mu&#x017F;ikali&#x017F;che Verhältniß der Einheit und der Ver&#x017F;chiedenheit umgekehrt i&#x017F;t und<lb/>
die Ver&#x017F;chiedenheit überwiegt über die Einheit, wir &#x017F;ehen den Raum &#x017F;ich<lb/>
erweitern zu einer Scene, auf der &#x017F;elb&#x017F;tändige Ge&#x017F;talten und Kräfte zu&#x017F;ammen<lb/>
und gegen einander agiren, die Lyrik wird zum lyri&#x017F;chen Drama, die Sub-<lb/>
jectivität geht aus einander zu einer Mehrheit von Subjecten, die in Gegen-<lb/>
&#x017F;atz und Harmonie zumal ihre Gefühle dar&#x017F;tellen. In gewi&#x017F;&#x017F;er Beziehung i&#x017F;t<lb/>
der Contrapunct freilich auch wiederum eine we&#x017F;entliche Verwirklichung des<lb/>
Begriffs der Mu&#x017F;ik; die bewegte Subjectivität, mit der &#x017F;ie zu thun hat,<lb/>
kommt hier zu ihrem vollen Recht, &#x017F;ie tritt auf als be&#x017F;ondere, neben andern<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[939/0177] kann fehlen, und die ſtreng polyphone Form iſt daher hier, wo es ſich um größere melodiſche Sätze oder um ganze Melodieen handelt, nur die Ver- flechtung, welche die ſelbſtändigen Sätze nicht mit einander abwechſeln, ſondern zuſammentönen und ſie doch in ihrer Selbſtändigkeit ſich behaupten läßt. Paſſend iſt der für ſolche Verflechtungen mehrerer Melodieen gang- bare Name Contrapunct; es ſtehen hier wirklich Reihen gegen Reihen, durch eigenthümlichen Gang und durch eigenthümlichen Rhythmus, der ſie aus einander hält, von einander geſchieden, jede ein Ganzes für ſich, aber doch jede vollkommen charakteriſtiſch und bedeutend nur in ihrer Verbindung mit der ihr gegenüberſtehenden. Wie überhaupt die Harmonie das maleriſche Element der Muſik vertritt, ſo insbeſondere dann, wenn ſie zum Contra- punct ſich fortbildet; es treten ſelbſtändige Geſtalten neben einander, aber in ſtrenger gegenſeitiger Bezogenheit, jede ergänzt und hinwiederum nach ihrer beſondern Eigenthümlichkeit in’s Licht geſetzt durch die andere, beide an einander gebunden durch Gleichheit des Umfangs, der Tonart, des Takts, der Begleitung, wenn ſolche dabei iſt, des allgemeinen Inhalts und Charakters, und doch jede ſich entſchieden von der andern trennend in der ſpezifiſchen Richtung oder Bewegung und in der ſpezielleren rhythmiſchen Gliederung. Nur hat der Contrapunct der maleriſchen Zuſammengruppirung contraſtirender Figuren (und ebenſo den früher betrachteten Verknüpfungs- und Verflechtungsformen) gegenüber wiederum die Eigenthümlichkeit, daß die Selbſtändigkeit der beiden zuſammengeketteten Reihen bei ihm weit fühl- barer, mit entſchieden ſpannendem Eindruck hervortritt. Wir ſehen ſie nicht als ein einfach ſich ergänzendes Nebeneinander, ſondern wir haben beide zugleich, wir müſſen ſie zuſammenhören und wir hören daher um ſo mehr ihre ſchlechthinige Verſchiedenheit; wir werden, wenn wir beide ver- folgen wollen, nach verſchiedenen Seiten hin distrahirt, es iſt, als ob die Muſik, deren Weſen einheitliche Tonverſchmelzung iſt, dieſe ihre Natur aufgeben und in’s Gegentheil verkehren wollte; wir fühlen beim Eintreten einer in größerem Maaßſtab durchgeführten contrapunctiſchen Behandlung ſogleich, daß die gewöhnliche Muſik abgebrochen und uns die Aufgabe geſtellt wird, eine ganz andere Muſik zu vernehmen, in welcher das urſprüngliche muſikaliſche Verhältniß der Einheit und der Verſchiedenheit umgekehrt iſt und die Verſchiedenheit überwiegt über die Einheit, wir ſehen den Raum ſich erweitern zu einer Scene, auf der ſelbſtändige Geſtalten und Kräfte zuſammen und gegen einander agiren, die Lyrik wird zum lyriſchen Drama, die Sub- jectivität geht aus einander zu einer Mehrheit von Subjecten, die in Gegen- ſatz und Harmonie zumal ihre Gefühle darſtellen. In gewiſſer Beziehung iſt der Contrapunct freilich auch wiederum eine weſentliche Verwirklichung des Begriffs der Muſik; die bewegte Subjectivität, mit der ſie zu thun hat, kommt hier zu ihrem vollen Recht, ſie tritt auf als beſondere, neben andern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/177
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 939. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/177>, abgerufen am 27.04.2024.