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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Rede, des Rufens, als Mittel zu Signalen, zur Erhöhung feierlicher oder
vergnügter Stimmung, als vorübergehendes Spiel mit Instrumentalklängen
auf; man kann lange gar nicht daran denken, diese nicht gestaltenbildende
Kunst doch als solche zu behandeln, sie zu eigener Entwicklung zu erheben,
Tonbilder, Tongemälde aus dem Tone zu erschaffen; wie die poetische Lyrik
nur schwer und spät zum Drama sich herausringt, so und noch mehr die
Musik zu besonderem Fürsichsein. Die Schwierigkeit der Entdeckung und
künstlerischen Gestaltung des Tonmaterials (§. 767, 1.) kommt hinzu; die
Herausfindung der mathematisch acustischen Verhältnisse fordert Beobachtung,
Reflexion und somit höhere Cultur (daher die langsamen Fortschritte im
Mittelalter). Die Idealität der Musik macht sie unfaßbar, hält sie lange
auf der Stufe des tastenden Herumsuchens zurück, und auch von all diesen
formellen Hemmnissen abgesehen, kann der Trieb zu concreterem musikalischem
Gefühlsausdruck, mit welchem die Musik erst zu ihrer ganzen Innerlichkeit
vordringt, so lange nicht erwachen, als das subjective Gefühlsleben selbst
gebunden und gehemmt oder noch zu wenig entwickelt ist in Folge einer die
freie Berechtigung der Subjectivität noch nicht zur Anerkennung zulassenden
einseitig objectiven oder dualistisch unfreien Weltanschauung. Die Musik ist
ein Sichselbstvernehmen des Subjects in seinem Gefühl, in welchem es sich
nach Dem was es selbst bewegt, nach seinen Empfindungen, Freuden,
Leiden, Hoffnungen gegenständlich wird; dieses Sichselbstvernehmenwollen
hat überall und immer Keime und Blüthen des Volkslieds hervorgetrieben,
indem in der volksthümlichen Sphäre das individuelle Einzelleben von
lebendiger musikalischer Aeußerung seines Gefühls nie zurückgehalten werden
konnte, aber auf dem Gebiet des öffentlichen, des religiösen und politischen
Lebens fand dieses Prinzip erst mit dem Aufgang der modernen Zeit seine
Geltung, und es begegnet uns daher im Alterthum und Mittelalter die
merkwürdige Erscheinung, daß der Musik politisch und religiös gerade die
entgegengesetzte Bestimmung zugewiesen wird, die Gefühlsäußerung in ob-
jective, der Willkür des Einzelsubjects entnommene plastische Formen zu
bringen, obwohl eine Reaction hiegegen, eine Regsamkeit des freien Prin-
zips, schon frühe sich zeigt und endlich im Ausgang der mittlern Zeit
gewaltsam sich Bahn bricht.

2. Auf dem Boden der Musik bekämpfen einander dem zuletzt Bemerkten
zufolge nicht nur directer und indirecter Idealismus, reine Formschönheit und
charakteristisch individueller und naturalistischer Gefühlsausdruck, sondern auch
Form und Ausdruck überhaupt (vergl. §. 792), objective Gebundenheit und
subjective Freiheit. Die religiöspolitische Praxis, die Theorie und der Zeit-
geschmack vereinigen sich von scheinbar ganz entlegenen Gesichtspuncten aus
in dem Streben, der Musik feste Formen zu geben; die erstere suchte Typen
zu fixiren, in denen die Musik unverändert sich bewegen sollte, um objective,

Rede, des Rufens, als Mittel zu Signalen, zur Erhöhung feierlicher oder
vergnügter Stimmung, als vorübergehendes Spiel mit Inſtrumentalklängen
auf; man kann lange gar nicht daran denken, dieſe nicht geſtaltenbildende
Kunſt doch als ſolche zu behandeln, ſie zu eigener Entwicklung zu erheben,
Tonbilder, Tongemälde aus dem Tone zu erſchaffen; wie die poetiſche Lyrik
nur ſchwer und ſpät zum Drama ſich herausringt, ſo und noch mehr die
Muſik zu beſonderem Fürſichſein. Die Schwierigkeit der Entdeckung und
künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials (§. 767, 1.) kommt hinzu; die
Herausfindung der mathematiſch acuſtiſchen Verhältniſſe fordert Beobachtung,
Reflexion und ſomit höhere Cultur (daher die langſamen Fortſchritte im
Mittelalter). Die Idealität der Muſik macht ſie unfaßbar, hält ſie lange
auf der Stufe des taſtenden Herumſuchens zurück, und auch von all dieſen
formellen Hemmniſſen abgeſehen, kann der Trieb zu concreterem muſikaliſchem
Gefühlsausdruck, mit welchem die Muſik erſt zu ihrer ganzen Innerlichkeit
vordringt, ſo lange nicht erwachen, als das ſubjective Gefühlsleben ſelbſt
gebunden und gehemmt oder noch zu wenig entwickelt iſt in Folge einer die
freie Berechtigung der Subjectivität noch nicht zur Anerkennung zulaſſenden
einſeitig objectiven oder dualiſtiſch unfreien Weltanſchauung. Die Muſik iſt
ein Sichſelbſtvernehmen des Subjects in ſeinem Gefühl, in welchem es ſich
nach Dem was es ſelbſt bewegt, nach ſeinen Empfindungen, Freuden,
Leiden, Hoffnungen gegenſtändlich wird; dieſes Sichſelbſtvernehmenwollen
hat überall und immer Keime und Blüthen des Volkslieds hervorgetrieben,
indem in der volksthümlichen Sphäre das individuelle Einzelleben von
lebendiger muſikaliſcher Aeußerung ſeines Gefühls nie zurückgehalten werden
konnte, aber auf dem Gebiet des öffentlichen, des religiöſen und politiſchen
Lebens fand dieſes Prinzip erſt mit dem Aufgang der modernen Zeit ſeine
Geltung, und es begegnet uns daher im Alterthum und Mittelalter die
merkwürdige Erſcheinung, daß der Muſik politiſch und religiös gerade die
entgegengeſetzte Beſtimmung zugewieſen wird, die Gefühlsäußerung in ob-
jective, der Willkür des Einzelſubjects entnommene plaſtiſche Formen zu
bringen, obwohl eine Reaction hiegegen, eine Regſamkeit des freien Prin-
zips, ſchon frühe ſich zeigt und endlich im Ausgang der mittlern Zeit
gewaltſam ſich Bahn bricht.

2. Auf dem Boden der Muſik bekämpfen einander dem zuletzt Bemerkten
zufolge nicht nur directer und indirecter Idealiſmus, reine Formſchönheit und
charakteriſtiſch individueller und naturaliſtiſcher Gefühlsausdruck, ſondern auch
Form und Ausdruck überhaupt (vergl. §. 792), objective Gebundenheit und
ſubjective Freiheit. Die religiöspolitiſche Praxis, die Theorie und der Zeit-
geſchmack vereinigen ſich von ſcheinbar ganz entlegenen Geſichtspuncten aus
in dem Streben, der Muſik feſte Formen zu geben; die erſtere ſuchte Typen
zu fixiren, in denen die Muſik unverändert ſich bewegen ſollte, um objective,

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[1123/0361] Rede, des Rufens, als Mittel zu Signalen, zur Erhöhung feierlicher oder vergnügter Stimmung, als vorübergehendes Spiel mit Inſtrumentalklängen auf; man kann lange gar nicht daran denken, dieſe nicht geſtaltenbildende Kunſt doch als ſolche zu behandeln, ſie zu eigener Entwicklung zu erheben, Tonbilder, Tongemälde aus dem Tone zu erſchaffen; wie die poetiſche Lyrik nur ſchwer und ſpät zum Drama ſich herausringt, ſo und noch mehr die Muſik zu beſonderem Fürſichſein. Die Schwierigkeit der Entdeckung und künſtleriſchen Geſtaltung des Tonmaterials (§. 767, 1.) kommt hinzu; die Herausfindung der mathematiſch acuſtiſchen Verhältniſſe fordert Beobachtung, Reflexion und ſomit höhere Cultur (daher die langſamen Fortſchritte im Mittelalter). Die Idealität der Muſik macht ſie unfaßbar, hält ſie lange auf der Stufe des taſtenden Herumſuchens zurück, und auch von all dieſen formellen Hemmniſſen abgeſehen, kann der Trieb zu concreterem muſikaliſchem Gefühlsausdruck, mit welchem die Muſik erſt zu ihrer ganzen Innerlichkeit vordringt, ſo lange nicht erwachen, als das ſubjective Gefühlsleben ſelbſt gebunden und gehemmt oder noch zu wenig entwickelt iſt in Folge einer die freie Berechtigung der Subjectivität noch nicht zur Anerkennung zulaſſenden einſeitig objectiven oder dualiſtiſch unfreien Weltanſchauung. Die Muſik iſt ein Sichſelbſtvernehmen des Subjects in ſeinem Gefühl, in welchem es ſich nach Dem was es ſelbſt bewegt, nach ſeinen Empfindungen, Freuden, Leiden, Hoffnungen gegenſtändlich wird; dieſes Sichſelbſtvernehmenwollen hat überall und immer Keime und Blüthen des Volkslieds hervorgetrieben, indem in der volksthümlichen Sphäre das individuelle Einzelleben von lebendiger muſikaliſcher Aeußerung ſeines Gefühls nie zurückgehalten werden konnte, aber auf dem Gebiet des öffentlichen, des religiöſen und politiſchen Lebens fand dieſes Prinzip erſt mit dem Aufgang der modernen Zeit ſeine Geltung, und es begegnet uns daher im Alterthum und Mittelalter die merkwürdige Erſcheinung, daß der Muſik politiſch und religiös gerade die entgegengeſetzte Beſtimmung zugewieſen wird, die Gefühlsäußerung in ob- jective, der Willkür des Einzelſubjects entnommene plaſtiſche Formen zu bringen, obwohl eine Reaction hiegegen, eine Regſamkeit des freien Prin- zips, ſchon frühe ſich zeigt und endlich im Ausgang der mittlern Zeit gewaltſam ſich Bahn bricht. 2. Auf dem Boden der Muſik bekämpfen einander dem zuletzt Bemerkten zufolge nicht nur directer und indirecter Idealiſmus, reine Formſchönheit und charakteriſtiſch individueller und naturaliſtiſcher Gefühlsausdruck, ſondern auch Form und Ausdruck überhaupt (vergl. §. 792), objective Gebundenheit und ſubjective Freiheit. Die religiöspolitiſche Praxis, die Theorie und der Zeit- geſchmack vereinigen ſich von ſcheinbar ganz entlegenen Geſichtspuncten aus in dem Streben, der Muſik feſte Formen zu geben; die erſtere ſuchte Typen zu fixiren, in denen die Muſik unverändert ſich bewegen ſollte, um objective,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/361>, abgerufen am 26.04.2024.