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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Ausdrucksmittel; es gelangt nicht zu einer Belebung des scharfgegliederten
Materials durch individualisirende Melodie, durch eine das Tonsystem modula-
torisch in Fluß setzende, concrete Accordklänge erzeugende Harmonie; die Musik
bleibt daher unentwickelt, sie hat Ausdruck, aber nur typischabstracten, sie hat
Schönheit, aber nur durch Begrenzung, durch absolute Durchsichtigkeit, durch
Fernhaltung alles Concreten, das die Einfachheit des Stimmungsausdrucks
beeinträchtigt, sie trennt sich ebendarum auch nicht wesentlich los von dem Bunde
mit Poesie und Orchestik, in welchem sie sich zu dieser ebenso scharfgegliederten
als einfachen Form entwickelt hat, sie bleibt melodiöse, rhythmisirte Declamation
und Begleitungsmusik, welche der poetisch erregten Rede und mimischen Bewe-
gung Maaß, Takt und Stimmungston gibt; es ist directer Idealismus, der
das Ungeregelte der Gefühlsäußerungen in schöne und bestimmte Form bringt,
aber in diesem Formalen stehen bleibt und so zum Formalismus wird.

Die Musik des Orients könnte hier nicht in Betracht kommen, selbst
wenn wir besser von ihr unterrichtet wären als wir es sind. Kultur-
geschichtlich ist es allerdings von großem Interesse zu sehen, wie z. B. der
zartfühlende Inder die feinern Klänge der Saiten-, der trockene Chinese den
handgreiflichen Lärm und das ohrenfälligere Geklingel der Schlag- und
Klinginstrumente vorzieht; es ist ferner namentlich dieß nicht zu bezweifeln,
daß im israelitischen Volke der erhabenen und gefühlreichen Entwicklung,
die seine religiöse Lyrik nahm, auch eine Gestaltung der Gesang- und In-
strumentenmusik zur Seite ging, die sich vor der der übrigen Semiten gewiß
durch Einfachheit und Würde auszeichnete; aber von freier musikalischer Pro-
ductivität ist keine Spur, der Gesang bewegte sich in wenigen traditionellen
Tonweisen, und die Instrumentenmusik, wenn sie auch für die damalige
Zeit prächtig und festlich war, kam über eine ganz einfache Begleitung der
Stimmen oder religiöser Acte niemals hinaus, daher denn auch seit der
Berührung des jüdischen Geistes mit dem Hellenismus die griechische Musik
die herrschende und namentlich von den alexandrinischen Juden nachgebildet
ward.

Die Griechen brechen auch in der Musik für alle Folgezeit Bahn
durch die künstlerische Gestaltung des Tonmaterials, deren klare und scharfe
Herausstellung vor Allem ihr Werk ist. Herstellung von Saiteninstrumenten
mit vollständiger Octave, Auffindung und Scheidung der diatonischen,
chromatischen und enharmonischen Leiter (welche letztere jedoch wegen der
Schwierigkeit des Fortgangs in Vierteltönen wieder aufgegeben ward, indem
derselbe auf die Dauer der Klarheit des griechischen Geistes nicht zusagen
konnte), Aufbau von (transponibeln) vier Moll- und drei Durtongeschlechtern
auf den sieben Tönen der diatonischen Leiter, welche nebst ihren Nebenton-
arten später Grundlage der Kirchentonarten (obwohl zum Theil mit ver-

Ausdrucksmittel; es gelangt nicht zu einer Belebung des ſcharfgegliederten
Materials durch individualiſirende Melodie, durch eine das Tonſyſtem modula-
toriſch in Fluß ſetzende, concrete Accordklänge erzeugende Harmonie; die Muſik
bleibt daher unentwickelt, ſie hat Ausdruck, aber nur typiſchabſtracten, ſie hat
Schönheit, aber nur durch Begrenzung, durch abſolute Durchſichtigkeit, durch
Fernhaltung alles Concreten, das die Einfachheit des Stimmungsausdrucks
beeinträchtigt, ſie trennt ſich ebendarum auch nicht weſentlich los von dem Bunde
mit Poeſie und Orcheſtik, in welchem ſie ſich zu dieſer ebenſo ſcharfgegliederten
als einfachen Form entwickelt hat, ſie bleibt melodiöſe, rhythmiſirte Declamation
und Begleitungsmuſik, welche der poetiſch erregten Rede und mimiſchen Bewe-
gung Maaß, Takt und Stimmungston gibt; es iſt directer Idealiſmus, der
das Ungeregelte der Gefühlsäußerungen in ſchöne und beſtimmte Form bringt,
aber in dieſem Formalen ſtehen bleibt und ſo zum Formalismus wird.

Die Muſik des Orients könnte hier nicht in Betracht kommen, ſelbſt
wenn wir beſſer von ihr unterrichtet wären als wir es ſind. Kultur-
geſchichtlich iſt es allerdings von großem Intereſſe zu ſehen, wie z. B. der
zartfühlende Inder die feinern Klänge der Saiten-, der trockene Chineſe den
handgreiflichen Lärm und das ohrenfälligere Geklingel der Schlag- und
Klinginſtrumente vorzieht; es iſt ferner namentlich dieß nicht zu bezweifeln,
daß im iſraelitiſchen Volke der erhabenen und gefühlreichen Entwicklung,
die ſeine religiöſe Lyrik nahm, auch eine Geſtaltung der Geſang- und In-
ſtrumentenmuſik zur Seite ging, die ſich vor der der übrigen Semiten gewiß
durch Einfachheit und Würde auszeichnete; aber von freier muſikaliſcher Pro-
ductivität iſt keine Spur, der Geſang bewegte ſich in wenigen traditionellen
Tonweiſen, und die Inſtrumentenmuſik, wenn ſie auch für die damalige
Zeit prächtig und feſtlich war, kam über eine ganz einfache Begleitung der
Stimmen oder religiöſer Acte niemals hinaus, daher denn auch ſeit der
Berührung des jüdiſchen Geiſtes mit dem Hellenismus die griechiſche Muſik
die herrſchende und namentlich von den alexandriniſchen Juden nachgebildet
ward.

Die Griechen brechen auch in der Muſik für alle Folgezeit Bahn
durch die künſtleriſche Geſtaltung des Tonmaterials, deren klare und ſcharfe
Herausſtellung vor Allem ihr Werk iſt. Herſtellung von Saiteninſtrumenten
mit vollſtändiger Octave, Auffindung und Scheidung der diatoniſchen,
chromatiſchen und enharmoniſchen Leiter (welche letztere jedoch wegen der
Schwierigkeit des Fortgangs in Vierteltönen wieder aufgegeben ward, indem
derſelbe auf die Dauer der Klarheit des griechiſchen Geiſtes nicht zuſagen
konnte), Aufbau von (transponibeln) vier Moll- und drei Durtongeſchlechtern
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[1126/0364] Ausdrucksmittel; es gelangt nicht zu einer Belebung des ſcharfgegliederten Materials durch individualiſirende Melodie, durch eine das Tonſyſtem modula- toriſch in Fluß ſetzende, concrete Accordklänge erzeugende Harmonie; die Muſik bleibt daher unentwickelt, ſie hat Ausdruck, aber nur typiſchabſtracten, ſie hat Schönheit, aber nur durch Begrenzung, durch abſolute Durchſichtigkeit, durch Fernhaltung alles Concreten, das die Einfachheit des Stimmungsausdrucks beeinträchtigt, ſie trennt ſich ebendarum auch nicht weſentlich los von dem Bunde mit Poeſie und Orcheſtik, in welchem ſie ſich zu dieſer ebenſo ſcharfgegliederten als einfachen Form entwickelt hat, ſie bleibt melodiöſe, rhythmiſirte Declamation und Begleitungsmuſik, welche der poetiſch erregten Rede und mimiſchen Bewe- gung Maaß, Takt und Stimmungston gibt; es iſt directer Idealiſmus, der das Ungeregelte der Gefühlsäußerungen in ſchöne und beſtimmte Form bringt, aber in dieſem Formalen ſtehen bleibt und ſo zum Formalismus wird. Die Muſik des Orients könnte hier nicht in Betracht kommen, ſelbſt wenn wir beſſer von ihr unterrichtet wären als wir es ſind. Kultur- geſchichtlich iſt es allerdings von großem Intereſſe zu ſehen, wie z. B. der zartfühlende Inder die feinern Klänge der Saiten-, der trockene Chineſe den handgreiflichen Lärm und das ohrenfälligere Geklingel der Schlag- und Klinginſtrumente vorzieht; es iſt ferner namentlich dieß nicht zu bezweifeln, daß im iſraelitiſchen Volke der erhabenen und gefühlreichen Entwicklung, die ſeine religiöſe Lyrik nahm, auch eine Geſtaltung der Geſang- und In- ſtrumentenmuſik zur Seite ging, die ſich vor der der übrigen Semiten gewiß durch Einfachheit und Würde auszeichnete; aber von freier muſikaliſcher Pro- ductivität iſt keine Spur, der Geſang bewegte ſich in wenigen traditionellen Tonweiſen, und die Inſtrumentenmuſik, wenn ſie auch für die damalige Zeit prächtig und feſtlich war, kam über eine ganz einfache Begleitung der Stimmen oder religiöſer Acte niemals hinaus, daher denn auch ſeit der Berührung des jüdiſchen Geiſtes mit dem Hellenismus die griechiſche Muſik die herrſchende und namentlich von den alexandriniſchen Juden nachgebildet ward. Die Griechen brechen auch in der Muſik für alle Folgezeit Bahn durch die künſtleriſche Geſtaltung des Tonmaterials, deren klare und ſcharfe Herausſtellung vor Allem ihr Werk iſt. Herſtellung von Saiteninſtrumenten mit vollſtändiger Octave, Auffindung und Scheidung der diatoniſchen, chromatiſchen und enharmoniſchen Leiter (welche letztere jedoch wegen der Schwierigkeit des Fortgangs in Vierteltönen wieder aufgegeben ward, indem derſelbe auf die Dauer der Klarheit des griechiſchen Geiſtes nicht zuſagen konnte), Aufbau von (transponibeln) vier Moll- und drei Durtongeſchlechtern auf den ſieben Tönen der diatoniſchen Leiter, welche nebſt ihren Nebenton- arten ſpäter Grundlage der Kirchentonarten (obwohl zum Theil mit ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/364>, abgerufen am 29.03.2024.