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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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2. Vollkommen wird die Musik über das antike Prinzip erst hinaus-
geführt durch die Einführung der Harmonie. Die Monotonie des uni-
sonen, blos melodischen Gesangs ruft zwar auch in Italien, wo sie sich
vorzugsweise ausgebildet hat, schon seit dem siebenten Jahrhundert einzelne
Versuche mehrstimmiger Belebung des Gesangs (wie schon im Alterthum)
hervor, aber erst vom deutschen Geiste wird sie in ihrer ganzen Leerheit
empfunden, seitdem man hier zuerst nur schüchtern tastend auf die Harmo-
nieverhältnisse der Intervalle aufmerksam geworden war und angefangen
hatte die Hauptstimme mit consonirenden Nebentönen zu begleiten; mit
dieser, wie es scheint, seit dem zehnten Jahrhundert in Flandern, wo auch
die Malerei einst am bestimmtesten den concreten ächt malerischen Styl der
flachern italienischen Anmuth entgegenstellen sollte, systematischer behandelten
und practisch gemachten Erfindung beginnt erst die Musik der Neuzeit, die
ganze und volle Musik überhaupt. Es war nichts Anderes als das Wohl-
gefallen am Mitklingen der einen Stimme zur andern und an den in dem-
selben zu Tage kommenden gesetzmäßigen Klangverhältnissen, was einem
Hucbald u. A. für die Harmonie ein so belebtes Interesse einflößte; die
altitalienische Musik setzte zwar mit Recht der antiken die Melodie, die Zu-
spitzung des abstracten bloßen Tonganges zu individuellerer, dem subjectiven
Gefühl genügender Gestaltung entgegen, aber sie war in dieser selbst
wiederum plastischen Herausführung des Innern zur Selbstdarstellung in
einfach ebenmäßigem, planem Linienumriß stehen oder vielmehr schweben
geblieben, sie hatte wie alle italienische Kunst etwas einseitig Superficielles,
ein Heraustreten des Innern an die Oberfläche in klarer, großartiger
Zeichnung, aber ohne Tiefe und Lebenswärme; hier aber ist es anders,
man will erstens nicht blos dieses einfache Linienziehen, das von einem
Momente zum andern vorwärts schreitet und damit zwar einen klaren, aber
auch einen leeren Eindruck macht, man will nicht mehr den Einzelton, son-
dern ein Tonganzes, man will um jeden Preis der Längendimension die
in die Breite und Tiefe, dem dünnen Laute den volleren, wärmeren Klang,
dem Tonumriß die Tonfärbung, und man will zweitens dem tonus vagus,
der auf den Stufen der Leiter aufundabirrt, den bestimmten Ton, bestimmte
Klangverhältnisse beigefügt haben, die in die Musik ein Element der Gesetz-
mäßigkeit und somit neben der Wärme auch etwas Strafferes, Strengeres,
Tieferes bringen, man will nicht blos Kunst, Melodiecomposition, Subjec-
tivität, sondern Natur, eine natürliche Gesetzmäßigkeit, eine Objectivität,
einen realen Hintergrund, auf welchem das Subjective sich bewege, wie
dieß Alles auch die deutsche und besonders die flandrische Malerei (§. 728)
in entschiedenster Weise erstrebte. Damit entsteht nun aber freilich auch eine
einseitige Richtung in der Entwicklung, die alle sonstigen Cruditäten der
mittelalterlichen Kunst noch weit hinter sich läßt. Die Harmonie wird

2. Vollkommen wird die Muſik über das antike Prinzip erſt hinaus-
geführt durch die Einführung der Harmonie. Die Monotonie des uni-
ſonen, blos melodiſchen Geſangs ruft zwar auch in Italien, wo ſie ſich
vorzugsweiſe ausgebildet hat, ſchon ſeit dem ſiebenten Jahrhundert einzelne
Verſuche mehrſtimmiger Belebung des Geſangs (wie ſchon im Alterthum)
hervor, aber erſt vom deutſchen Geiſte wird ſie in ihrer ganzen Leerheit
empfunden, ſeitdem man hier zuerſt nur ſchüchtern taſtend auf die Harmo-
nieverhältniſſe der Intervalle aufmerkſam geworden war und angefangen
hatte die Hauptſtimme mit conſonirenden Nebentönen zu begleiten; mit
dieſer, wie es ſcheint, ſeit dem zehnten Jahrhundert in Flandern, wo auch
die Malerei einſt am beſtimmteſten den concreten ächt maleriſchen Styl der
flachern italieniſchen Anmuth entgegenſtellen ſollte, ſyſtematiſcher behandelten
und practiſch gemachten Erfindung beginnt erſt die Muſik der Neuzeit, die
ganze und volle Muſik überhaupt. Es war nichts Anderes als das Wohl-
gefallen am Mitklingen der einen Stimme zur andern und an den in dem-
ſelben zu Tage kommenden geſetzmäßigen Klangverhältniſſen, was einem
Hucbald u. A. für die Harmonie ein ſo belebtes Intereſſe einflößte; die
altitalieniſche Muſik ſetzte zwar mit Recht der antiken die Melodie, die Zu-
ſpitzung des abſtracten bloßen Tonganges zu individuellerer, dem ſubjectiven
Gefühl genügender Geſtaltung entgegen, aber ſie war in dieſer ſelbſt
wiederum plaſtiſchen Herausführung des Innern zur Selbſtdarſtellung in
einfach ebenmäßigem, planem Linienumriß ſtehen oder vielmehr ſchweben
geblieben, ſie hatte wie alle italieniſche Kunſt etwas einſeitig Superficielles,
ein Heraustreten des Innern an die Oberfläche in klarer, großartiger
Zeichnung, aber ohne Tiefe und Lebenswärme; hier aber iſt es anders,
man will erſtens nicht blos dieſes einfache Linienziehen, das von einem
Momente zum andern vorwärts ſchreitet und damit zwar einen klaren, aber
auch einen leeren Eindruck macht, man will nicht mehr den Einzelton, ſon-
dern ein Tonganzes, man will um jeden Preis der Längendimenſion die
in die Breite und Tiefe, dem dünnen Laute den volleren, wärmeren Klang,
dem Tonumriß die Tonfärbung, und man will zweitens dem tonus vagus,
der auf den Stufen der Leiter aufundabirrt, den beſtimmten Ton, beſtimmte
Klangverhältniſſe beigefügt haben, die in die Muſik ein Element der Geſetz-
mäßigkeit und ſomit neben der Wärme auch etwas Strafferes, Strengeres,
Tieferes bringen, man will nicht blos Kunſt, Melodiecompoſition, Subjec-
tivität, ſondern Natur, eine natürliche Geſetzmäßigkeit, eine Objectivität,
einen realen Hintergrund, auf welchem das Subjective ſich bewege, wie
dieß Alles auch die deutſche und beſonders die flandriſche Malerei (§. 728)
in entſchiedenſter Weiſe erſtrebte. Damit entſteht nun aber freilich auch eine
einſeitige Richtung in der Entwicklung, die alle ſonſtigen Cruditäten der
mittelalterlichen Kunſt noch weit hinter ſich läßt. Die Harmonie wird

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[1131/0369] 2. Vollkommen wird die Muſik über das antike Prinzip erſt hinaus- geführt durch die Einführung der Harmonie. Die Monotonie des uni- ſonen, blos melodiſchen Geſangs ruft zwar auch in Italien, wo ſie ſich vorzugsweiſe ausgebildet hat, ſchon ſeit dem ſiebenten Jahrhundert einzelne Verſuche mehrſtimmiger Belebung des Geſangs (wie ſchon im Alterthum) hervor, aber erſt vom deutſchen Geiſte wird ſie in ihrer ganzen Leerheit empfunden, ſeitdem man hier zuerſt nur ſchüchtern taſtend auf die Harmo- nieverhältniſſe der Intervalle aufmerkſam geworden war und angefangen hatte die Hauptſtimme mit conſonirenden Nebentönen zu begleiten; mit dieſer, wie es ſcheint, ſeit dem zehnten Jahrhundert in Flandern, wo auch die Malerei einſt am beſtimmteſten den concreten ächt maleriſchen Styl der flachern italieniſchen Anmuth entgegenſtellen ſollte, ſyſtematiſcher behandelten und practiſch gemachten Erfindung beginnt erſt die Muſik der Neuzeit, die ganze und volle Muſik überhaupt. Es war nichts Anderes als das Wohl- gefallen am Mitklingen der einen Stimme zur andern und an den in dem- ſelben zu Tage kommenden geſetzmäßigen Klangverhältniſſen, was einem Hucbald u. A. für die Harmonie ein ſo belebtes Intereſſe einflößte; die altitalieniſche Muſik ſetzte zwar mit Recht der antiken die Melodie, die Zu- ſpitzung des abſtracten bloßen Tonganges zu individuellerer, dem ſubjectiven Gefühl genügender Geſtaltung entgegen, aber ſie war in dieſer ſelbſt wiederum plaſtiſchen Herausführung des Innern zur Selbſtdarſtellung in einfach ebenmäßigem, planem Linienumriß ſtehen oder vielmehr ſchweben geblieben, ſie hatte wie alle italieniſche Kunſt etwas einſeitig Superficielles, ein Heraustreten des Innern an die Oberfläche in klarer, großartiger Zeichnung, aber ohne Tiefe und Lebenswärme; hier aber iſt es anders, man will erſtens nicht blos dieſes einfache Linienziehen, das von einem Momente zum andern vorwärts ſchreitet und damit zwar einen klaren, aber auch einen leeren Eindruck macht, man will nicht mehr den Einzelton, ſon- dern ein Tonganzes, man will um jeden Preis der Längendimenſion die in die Breite und Tiefe, dem dünnen Laute den volleren, wärmeren Klang, dem Tonumriß die Tonfärbung, und man will zweitens dem tonus vagus, der auf den Stufen der Leiter aufundabirrt, den beſtimmten Ton, beſtimmte Klangverhältniſſe beigefügt haben, die in die Muſik ein Element der Geſetz- mäßigkeit und ſomit neben der Wärme auch etwas Strafferes, Strengeres, Tieferes bringen, man will nicht blos Kunſt, Melodiecompoſition, Subjec- tivität, ſondern Natur, eine natürliche Geſetzmäßigkeit, eine Objectivität, einen realen Hintergrund, auf welchem das Subjective ſich bewege, wie dieß Alles auch die deutſche und beſonders die flandriſche Malerei (§. 728) in entſchiedenſter Weiſe erſtrebte. Damit entſteht nun aber freilich auch eine einſeitige Richtung in der Entwicklung, die alle ſonſtigen Cruditäten der mittelalterlichen Kunſt noch weit hinter ſich läßt. Die Harmonie wird

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/369>, abgerufen am 28.04.2024.