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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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nahezu ebenbürtigen Zeitgenossen zur Seite gestellt, erhebt sich in Cherubini
und Spontini, an Gluck anknüpfend, zu tieferem Ausdruck, zu heroischer
Kraft, zu energischer und glänzender Totalwirkung; Rossini bereichert das
italienisch melodische Element mit den Tonmitteln der deutschen Musik, zieht
aber die Oper zur Einseitigkeit des Melodiereizes, der Gesangsanmuth und
Gesangsvirtuosität, des äußern Effects wieder herab. Eine höhere Richtung
nimmt die Musik bei den deutschen Romantikern; am kräftigsten und
geistreichsten gestaltet sich diese Romantik bei Schubert, weicher, aber aus-
drucksvoll, gefühl-, formen- und farbenreich, poetisch, obwohl auch zu viel
schimmernd und glänzend, bei Weber. Eine überaus regsame Production in
allen Zweigen des freien Styls bereichert auch neben jenen Hauptrichtungen die
Musik mit Werken, die mehr oder weniger Einen Zug mit diesen und unter
einander gemein haben, die Modernität, d. h. die mit Stoff und Form
absolut frei waltende Subjectivität; eine Ausnahme hievon tritt da ein, wo
das ältere lyrisch melodische Element theils, wie bei Spohr, zum Subjectiv-
elegischen sich fortbildet, theils die Liedcomposition aus sich hervortreibt,
indem in dieser freien Gattung das neunzehente Jahrhundert eine hohe Stufe
der Vollendung erreicht.

Die Gefahr der modernen Musik ist dieß, daß sie eine absolut freie
ist; sie ist durch keine Typen mehr gebunden; die Naivität Haydn'scher Ge-
müthlichkeit, die Mozart'sche Objectivität künstlerischen Schaffens, die in
natürlichem Drange und mit der wonnigen Freude steten Gelingens die
gegebenen Formen mit einem Inhalte füllt, welcher erwärmen, Wirkung
thun, zeigen soll, was die Musik vermag, die Objectivität, in der selbst
Beethoven ist, weil in ihm der Mensch den Musiker zur Aeußerung treibt,
dieß Alles ist mit dem freien Standpunct des modernen Bewußtseins über-
wunden, die Musik ist mehr Phantasie- als Empfindungsthätigkeit, daher
in ihr das Ursprüngliche und Urkräftige des unmittelbaren Hervorquellens
aus Gefühl, Gemüth und Charakter zurückweicht, am wenigsten bei Schubert,
dessen Romantik z. B. in der Symphonie durch poetische Gedanken- und
Farbenfülle anspricht und ihrer blumenreichen Mannigfaltigkeit ungeachtet
das entschiedene Gepräge eines kräftig in die Tonwelt hineingreifenden, ächt
musikalischen Charakters an sich trägt; überhaupt ist gerade die Romantik
diejenige Form der Modernität, die trotz ihrer über dem Inhalte stehenden
Subjectivität doch eine Ausfüllung des Lebens mit Poesie und poetischem
Klange wirklich sucht und so aus der Unmittelbarkeit nicht ganz heraus
ist, -- daher die hohe Bedeutung, welche außer Werken von Marschner,
Schumann
namentlich die Weber'sche Oper durch ihre Poesie des Tones
und ihre Verwendung der musikalischen Mittel zu weich und hell wieder-
klingendem Gefühlsausdruck stets behaupten wird trotz der im §. hervorge-

nahezu ebenbürtigen Zeitgenoſſen zur Seite geſtellt, erhebt ſich in Cherubini
und Spontini, an Gluck anknüpfend, zu tieferem Ausdruck, zu heroiſcher
Kraft, zu energiſcher und glänzender Totalwirkung; Roſſini bereichert das
italieniſch melodiſche Element mit den Tonmitteln der deutſchen Muſik, zieht
aber die Oper zur Einſeitigkeit des Melodiereizes, der Geſangsanmuth und
Geſangsvirtuoſität, des äußern Effects wieder herab. Eine höhere Richtung
nimmt die Muſik bei den deutſchen Romantikern; am kräftigſten und
geiſtreichſten geſtaltet ſich dieſe Romantik bei Schubert, weicher, aber aus-
drucksvoll, gefühl-, formen- und farbenreich, poetiſch, obwohl auch zu viel
ſchimmernd und glänzend, bei Weber. Eine überaus regſame Production in
allen Zweigen des freien Styls bereichert auch neben jenen Hauptrichtungen die
Muſik mit Werken, die mehr oder weniger Einen Zug mit dieſen und unter
einander gemein haben, die Modernität, d. h. die mit Stoff und Form
abſolut frei waltende Subjectivität; eine Ausnahme hievon tritt da ein, wo
das ältere lyriſch melodiſche Element theils, wie bei Spohr, zum Subjectiv-
elegiſchen ſich fortbildet, theils die Liedcompoſition aus ſich hervortreibt,
indem in dieſer freien Gattung das neunzehente Jahrhundert eine hohe Stufe
der Vollendung erreicht.

Die Gefahr der modernen Muſik iſt dieß, daß ſie eine abſolut freie
iſt; ſie iſt durch keine Typen mehr gebunden; die Naivität Haydn’ſcher Ge-
müthlichkeit, die Mozart’ſche Objectivität künſtleriſchen Schaffens, die in
natürlichem Drange und mit der wonnigen Freude ſteten Gelingens die
gegebenen Formen mit einem Inhalte füllt, welcher erwärmen, Wirkung
thun, zeigen ſoll, was die Muſik vermag, die Objectivität, in der ſelbſt
Beethoven iſt, weil in ihm der Menſch den Muſiker zur Aeußerung treibt,
dieß Alles iſt mit dem freien Standpunct des modernen Bewußtſeins über-
wunden, die Muſik iſt mehr Phantaſie- als Empfindungsthätigkeit, daher
in ihr das Urſprüngliche und Urkräftige des unmittelbaren Hervorquellens
aus Gefühl, Gemüth und Charakter zurückweicht, am wenigſten bei Schubert,
deſſen Romantik z. B. in der Symphonie durch poetiſche Gedanken- und
Farbenfülle anſpricht und ihrer blumenreichen Mannigfaltigkeit ungeachtet
das entſchiedene Gepräge eines kräftig in die Tonwelt hineingreifenden, ächt
muſikaliſchen Charakters an ſich trägt; überhaupt iſt gerade die Romantik
diejenige Form der Modernität, die trotz ihrer über dem Inhalte ſtehenden
Subjectivität doch eine Ausfüllung des Lebens mit Poeſie und poetiſchem
Klange wirklich ſucht und ſo aus der Unmittelbarkeit nicht ganz heraus
iſt, — daher die hohe Bedeutung, welche außer Werken von Marſchner,
Schumann
namentlich die Weber’ſche Oper durch ihre Poeſie des Tones
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/385>, abgerufen am 26.04.2024.