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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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sich hiemit gerade wie mit dem Messen in der Baukunst vergl. §. 558,
Anm. S. 195. Der Satz, daß die Musik ein unbewußtes Zählen sei, wird
auch dadurch nicht umgestoßen, daß dieß Zählen ein weit verwickelterer
Prozeß ist, als es auf den ersten Blick scheint, denn hinter den Zahlen-
Einheiten, mit welchen die Technik der Musik unmittelbar schaltet, liegen
ungemein große Zahlen verborgen, da der Ton erst hörbar wird, wenn
wenigstens 30 Schwingungen in der Secunde erfolgen. Man bedenke, daß
selbst der gewöhnliche Techniker, der zur Fertigkeit gelangt ist, jenes dem
Schüler so schwere Zählen ganz instinctmäßig ausübt, daß also auch die
bewußte Arithmetik wieder im Naturdunkel erlischt; so gut dieß möglich ist,
kann es auch eine Arithmetik, die mit noch viel größeren Summen rechnet,
vor dem Bewußtsein geben.

§. 763.

Das Organ, durch welches die in Töne aufgelöste Welt der Objecte in
das Innere einzieht, ist der Sinn des zeitlichen Vernehmens, das Gehör.
Das Kunstwerk besteht nicht anders, als so lang es ausgeführt wird, es wendet
sich unmittelbar an den erzitternden Nerv und die innerste Individualität in der
einfachen Urform ihres geistigen Daseins, die Zeit. Daher seine elementarische
Wirkung, welche vermöge der schwebenden Natur des Gefühls (vergl. §. 749)
in die tiefste Erregung der Sinnlichkeit und überhaupt eine durchaus patho-
logische Stimmung übergehen kann. Die Musik als Kunst wühlt aber das
ganze Gefühlsleben nur auf, um es innerhalb seiner selbst zur reinen Form in
dem doppelten Sinn eines freien Scheins und einer Wohlordnung, worin das
Weltganze als harmonisches empfunden wird (vergl. §. 750 und 758), zu läutern.

Wir haben zuerst das Wesen des Gefühls entwickelt, ununterschieden,
ob vom Künstler oder vom Zuhörer die Rede sei; hierauf sind wir zum
Künstler herübergegangen. Dieser legt sein Empfinden im tönenden Kunst-
werke nieder; indem er aus Körpern den Ton entwickelt, die Gestaltenwelt
in Töne auflöst, so spricht er eben darin die Natur des Gefühls als die
in das bewegte Innewerden des Subjects aufgelöste Welt aus. Zwischen
einem Gefühlsleben und dem des Zuhörers, worin dieselbe Stimmung geweckt
werden soll, liegt nun als die Pforte, durch welche der Gefühl-erfüllte Ton
gehen muß, der Sinn des Gehörs. Die Luftwelle setzt den Gehörsnerv in
die entsprechende vibrirende Bewegung und mit Einem Schlage beginnt jener
dunkle Prozeß, wodurch die ausgedrückte geistige Stimmung in dem centralen
Geistesorgan unter Mitschwingen des gesammten Nervenlebens sich reflectirt.
Vom Gehörsinne ist das Wesentliche im ersten Theile §. 71 gesagt: er steht
in der tiefsten Beziehung zum Gefühle schon darum, weil er genau dessen

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 54

ſich hiemit gerade wie mit dem Meſſen in der Baukunſt vergl. §. 558,
Anm. S. 195. Der Satz, daß die Muſik ein unbewußtes Zählen ſei, wird
auch dadurch nicht umgeſtoßen, daß dieß Zählen ein weit verwickelterer
Prozeß iſt, als es auf den erſten Blick ſcheint, denn hinter den Zahlen-
Einheiten, mit welchen die Technik der Muſik unmittelbar ſchaltet, liegen
ungemein große Zahlen verborgen, da der Ton erſt hörbar wird, wenn
wenigſtens 30 Schwingungen in der Secunde erfolgen. Man bedenke, daß
ſelbſt der gewöhnliche Techniker, der zur Fertigkeit gelangt iſt, jenes dem
Schüler ſo ſchwere Zählen ganz inſtinctmäßig ausübt, daß alſo auch die
bewußte Arithmetik wieder im Naturdunkel erliſcht; ſo gut dieß möglich iſt,
kann es auch eine Arithmetik, die mit noch viel größeren Summen rechnet,
vor dem Bewußtſein geben.

§. 763.

Das Organ, durch welches die in Töne aufgelöste Welt der Objecte in
das Innere einzieht, iſt der Sinn des zeitlichen Vernehmens, das Gehör.
Das Kunſtwerk beſteht nicht anders, als ſo lang es ausgeführt wird, es wendet
ſich unmittelbar an den erzitternden Nerv und die innerſte Individualität in der
einfachen Urform ihres geiſtigen Daſeins, die Zeit. Daher ſeine elementariſche
Wirkung, welche vermöge der ſchwebenden Natur des Gefühls (vergl. §. 749)
in die tiefſte Erregung der Sinnlichkeit und überhaupt eine durchaus patho-
logiſche Stimmung übergehen kann. Die Muſik als Kunſt wühlt aber das
ganze Gefühlsleben nur auf, um es innerhalb ſeiner ſelbſt zur reinen Form in
dem doppelten Sinn eines freien Scheins und einer Wohlordnung, worin das
Weltganze als harmoniſches empfunden wird (vergl. §. 750 und 758), zu läutern.

Wir haben zuerſt das Weſen des Gefühls entwickelt, ununterſchieden,
ob vom Künſtler oder vom Zuhörer die Rede ſei; hierauf ſind wir zum
Künſtler herübergegangen. Dieſer legt ſein Empfinden im tönenden Kunſt-
werke nieder; indem er aus Körpern den Ton entwickelt, die Geſtaltenwelt
in Töne auflöst, ſo ſpricht er eben darin die Natur des Gefühls als die
in das bewegte Innewerden des Subjects aufgelöste Welt aus. Zwiſchen
einem Gefühlsleben und dem des Zuhörers, worin dieſelbe Stimmung geweckt
werden ſoll, liegt nun als die Pforte, durch welche der Gefühl-erfüllte Ton
gehen muß, der Sinn des Gehörs. Die Luftwelle ſetzt den Gehörsnerv in
die entſprechende vibrirende Bewegung und mit Einem Schlage beginnt jener
dunkle Prozeß, wodurch die ausgedrückte geiſtige Stimmung in dem centralen
Geiſtesorgan unter Mitſchwingen des geſammten Nervenlebens ſich reflectirt.
Vom Gehörſinne iſt das Weſentliche im erſten Theile §. 71 geſagt: er ſteht
in der tiefſten Beziehung zum Gefühle ſchon darum, weil er genau deſſen

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 54
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[823/0061] ſich hiemit gerade wie mit dem Meſſen in der Baukunſt vergl. §. 558, Anm. S. 195. Der Satz, daß die Muſik ein unbewußtes Zählen ſei, wird auch dadurch nicht umgeſtoßen, daß dieß Zählen ein weit verwickelterer Prozeß iſt, als es auf den erſten Blick ſcheint, denn hinter den Zahlen- Einheiten, mit welchen die Technik der Muſik unmittelbar ſchaltet, liegen ungemein große Zahlen verborgen, da der Ton erſt hörbar wird, wenn wenigſtens 30 Schwingungen in der Secunde erfolgen. Man bedenke, daß ſelbſt der gewöhnliche Techniker, der zur Fertigkeit gelangt iſt, jenes dem Schüler ſo ſchwere Zählen ganz inſtinctmäßig ausübt, daß alſo auch die bewußte Arithmetik wieder im Naturdunkel erliſcht; ſo gut dieß möglich iſt, kann es auch eine Arithmetik, die mit noch viel größeren Summen rechnet, vor dem Bewußtſein geben. §. 763. Das Organ, durch welches die in Töne aufgelöste Welt der Objecte in das Innere einzieht, iſt der Sinn des zeitlichen Vernehmens, das Gehör. Das Kunſtwerk beſteht nicht anders, als ſo lang es ausgeführt wird, es wendet ſich unmittelbar an den erzitternden Nerv und die innerſte Individualität in der einfachen Urform ihres geiſtigen Daſeins, die Zeit. Daher ſeine elementariſche Wirkung, welche vermöge der ſchwebenden Natur des Gefühls (vergl. §. 749) in die tiefſte Erregung der Sinnlichkeit und überhaupt eine durchaus patho- logiſche Stimmung übergehen kann. Die Muſik als Kunſt wühlt aber das ganze Gefühlsleben nur auf, um es innerhalb ſeiner ſelbſt zur reinen Form in dem doppelten Sinn eines freien Scheins und einer Wohlordnung, worin das Weltganze als harmoniſches empfunden wird (vergl. §. 750 und 758), zu läutern. Wir haben zuerſt das Weſen des Gefühls entwickelt, ununterſchieden, ob vom Künſtler oder vom Zuhörer die Rede ſei; hierauf ſind wir zum Künſtler herübergegangen. Dieſer legt ſein Empfinden im tönenden Kunſt- werke nieder; indem er aus Körpern den Ton entwickelt, die Geſtaltenwelt in Töne auflöst, ſo ſpricht er eben darin die Natur des Gefühls als die in das bewegte Innewerden des Subjects aufgelöste Welt aus. Zwiſchen einem Gefühlsleben und dem des Zuhörers, worin dieſelbe Stimmung geweckt werden ſoll, liegt nun als die Pforte, durch welche der Gefühl-erfüllte Ton gehen muß, der Sinn des Gehörs. Die Luftwelle ſetzt den Gehörsnerv in die entſprechende vibrirende Bewegung und mit Einem Schlage beginnt jener dunkle Prozeß, wodurch die ausgedrückte geiſtige Stimmung in dem centralen Geiſtesorgan unter Mitſchwingen des geſammten Nervenlebens ſich reflectirt. Vom Gehörſinne iſt das Weſentliche im erſten Theile §. 71 geſagt: er ſteht in der tiefſten Beziehung zum Gefühle ſchon darum, weil er genau deſſen Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 54

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 823. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/61>, abgerufen am 27.04.2024.