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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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eine Mehrheit von Dichtern, die wie Bienen ein Ganzes bauen, auch ohne
tief verschiedene Thätigkeit des Letzten, der die Hand anlegt, nicht allzuschwer
vorstellig machen. Diesem hohen Glücke der Kunst gesellt sich nun das
andere des Stoffs. Es erhellt nämlich aus unserer allgemeinen Erörterung
auch dieß, daß für die epische Auffassung der absolut entsprechendste Stoff
das heroische Jugendalter eines Volkes ist, wie wir es in §. 328
in Kurzem charakterisirt und dabei auf Hegel's ausgezeichnete Darstellung
verwiesen haben. Dieser Zustand konnte aber bei keinem Volke so poetisch
sein wie bei dem der Griechen, dessen Charakter auch in der historischen
Zeit die schönen in §. 348 ff. geschilderten Grundzüge bewahrt. Die
Heldensage, reich und rein bildend wie keine andere (§. 436), hat einen
Moment aus diesem vorgeschichtlichen Zeitalter, einen Rachezug gegen eine
asiatische Stadt ergriffen und zu einem Bilde gesteigert, das eben in und
mit den Liedern selbst fortwuchs bis zu der Idealität, die es in der letzten
Hand gewann. Wir haben vor uns das Jugendleben eines unendlich
zukunftreichen Volks, das seine Nationalität im Kriege bekräftigt. Die
Tapferkeit ist die Cardinaltugend und so durch den bestimmenden Mittel-
punct dafür gesorgt, daß wir es rein episch mit dem "nach außen wirken-
den Menschen", "der Naturseite des Charakters" zu thun haben. Die
ganze Nation ist, wie im näheren Sinn der Einzelne, nach außen gewendet
und zwar in einem welthistorischen Zusammenstoße, worin sie sich ihrer
Eigenthümlichkeit, ihres Werths, ihres großen künftigen Berufs bewußt
wird und alles Einheimische den Accent der gegensätzlichen Spannung er-
hält. Dieser Gegensatz ist aber wesentlich der des rein Menschlichen gegen
das Barbarenthum. Neben der Wildheit, die des Feindes entrissene Schaam
den wilden Hunden und Geiern zur Beute hinwirft, ist die zarte Knospe
rührender Humanität erschlossen, der Sinn für die tieferen und feineren
Kräfte der Intelligenz aufgegangen. Eine Gruppe plastisch fester Charakter-
typen repräsentirt die Grundzüge des Nationalgeistes auf der gegebenen
Stufe seiner sittlichen Entwicklung. Das ganze Leben der nationalen Sitte,
in naiver Verwunderung über die fremde, breitet sich aus. Das einfachste
Thun erscheint als ein ursprüngliches, ehrwürdiges und eine Wäsche am
Fluß, besorgt von einer Königstochter, wird zum anmuthigsten, rührendsten
Bilde; auch dabei gedenkt man gern Göthe's, wie er schon in Werther's
Leiden seinen Beruf zum epischen Dichter gezeigt hat durch die schöne Stelle
über das "Wasserholen am Brunnen, das harmloseste Geschäft und das
Nöthigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten." Die
Kunst hat sich in diesen Zuständen schon kräftig genug entwickelt, um durch
Schmuck jeder Art das Bedürfniß zu veredeln, aber sie begegnet noch einem
kindlichen Staunen, Alles ist noch frisch. Keine Lebensform ist in dem
reichen Ganzen vergessen, kein wesentliches Gefühl, keine Gewohnheit, kein

eine Mehrheit von Dichtern, die wie Bienen ein Ganzes bauen, auch ohne
tief verſchiedene Thätigkeit des Letzten, der die Hand anlegt, nicht allzuſchwer
vorſtellig machen. Dieſem hohen Glücke der Kunſt geſellt ſich nun das
andere des Stoffs. Es erhellt nämlich aus unſerer allgemeinen Erörterung
auch dieß, daß für die epiſche Auffaſſung der abſolut entſprechendſte Stoff
das heroiſche Jugendalter eines Volkes iſt, wie wir es in §. 328
in Kurzem charakteriſirt und dabei auf Hegel’s ausgezeichnete Darſtellung
verwieſen haben. Dieſer Zuſtand konnte aber bei keinem Volke ſo poetiſch
ſein wie bei dem der Griechen, deſſen Charakter auch in der hiſtoriſchen
Zeit die ſchönen in §. 348 ff. geſchilderten Grundzüge bewahrt. Die
Heldenſage, reich und rein bildend wie keine andere (§. 436), hat einen
Moment aus dieſem vorgeſchichtlichen Zeitalter, einen Rachezug gegen eine
aſiatiſche Stadt ergriffen und zu einem Bilde geſteigert, das eben in und
mit den Liedern ſelbſt fortwuchs bis zu der Idealität, die es in der letzten
Hand gewann. Wir haben vor uns das Jugendleben eines unendlich
zukunftreichen Volks, das ſeine Nationalität im Kriege bekräftigt. Die
Tapferkeit iſt die Cardinaltugend und ſo durch den beſtimmenden Mittel-
punct dafür geſorgt, daß wir es rein epiſch mit dem „nach außen wirken-
den Menſchen“, „der Naturſeite des Charakters“ zu thun haben. Die
ganze Nation iſt, wie im näheren Sinn der Einzelne, nach außen gewendet
und zwar in einem welthiſtoriſchen Zuſammenſtoße, worin ſie ſich ihrer
Eigenthümlichkeit, ihres Werths, ihres großen künftigen Berufs bewußt
wird und alles Einheimiſche den Accent der gegenſätzlichen Spannung er-
hält. Dieſer Gegenſatz iſt aber weſentlich der des rein Menſchlichen gegen
das Barbarenthum. Neben der Wildheit, die des Feindes entriſſene Schaam
den wilden Hunden und Geiern zur Beute hinwirft, iſt die zarte Knoſpe
rührender Humanität erſchloſſen, der Sinn für die tieferen und feineren
Kräfte der Intelligenz aufgegangen. Eine Gruppe plaſtiſch feſter Charakter-
typen repräſentirt die Grundzüge des Nationalgeiſtes auf der gegebenen
Stufe ſeiner ſittlichen Entwicklung. Das ganze Leben der nationalen Sitte,
in naiver Verwunderung über die fremde, breitet ſich aus. Das einfachſte
Thun erſcheint als ein urſprüngliches, ehrwürdiges und eine Wäſche am
Fluß, beſorgt von einer Königstochter, wird zum anmuthigſten, rührendſten
Bilde; auch dabei gedenkt man gern Göthe’s, wie er ſchon in Werther’s
Leiden ſeinen Beruf zum epiſchen Dichter gezeigt hat durch die ſchöne Stelle
über das „Waſſerholen am Brunnen, das harmloſeſte Geſchäft und das
Nöthigſte, das ehemals die Töchter der Könige ſelbſt verrichteten.“ Die
Kunſt hat ſich in dieſen Zuſtänden ſchon kräftig genug entwickelt, um durch
Schmuck jeder Art das Bedürfniß zu veredeln, aber ſie begegnet noch einem
kindlichen Staunen, Alles iſt noch friſch. Keine Lebensform iſt in dem
reichen Ganzen vergeſſen, kein weſentliches Gefühl, keine Gewohnheit, kein

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[1288/0152] eine Mehrheit von Dichtern, die wie Bienen ein Ganzes bauen, auch ohne tief verſchiedene Thätigkeit des Letzten, der die Hand anlegt, nicht allzuſchwer vorſtellig machen. Dieſem hohen Glücke der Kunſt geſellt ſich nun das andere des Stoffs. Es erhellt nämlich aus unſerer allgemeinen Erörterung auch dieß, daß für die epiſche Auffaſſung der abſolut entſprechendſte Stoff das heroiſche Jugendalter eines Volkes iſt, wie wir es in §. 328 in Kurzem charakteriſirt und dabei auf Hegel’s ausgezeichnete Darſtellung verwieſen haben. Dieſer Zuſtand konnte aber bei keinem Volke ſo poetiſch ſein wie bei dem der Griechen, deſſen Charakter auch in der hiſtoriſchen Zeit die ſchönen in §. 348 ff. geſchilderten Grundzüge bewahrt. Die Heldenſage, reich und rein bildend wie keine andere (§. 436), hat einen Moment aus dieſem vorgeſchichtlichen Zeitalter, einen Rachezug gegen eine aſiatiſche Stadt ergriffen und zu einem Bilde geſteigert, das eben in und mit den Liedern ſelbſt fortwuchs bis zu der Idealität, die es in der letzten Hand gewann. Wir haben vor uns das Jugendleben eines unendlich zukunftreichen Volks, das ſeine Nationalität im Kriege bekräftigt. Die Tapferkeit iſt die Cardinaltugend und ſo durch den beſtimmenden Mittel- punct dafür geſorgt, daß wir es rein epiſch mit dem „nach außen wirken- den Menſchen“, „der Naturſeite des Charakters“ zu thun haben. Die ganze Nation iſt, wie im näheren Sinn der Einzelne, nach außen gewendet und zwar in einem welthiſtoriſchen Zuſammenſtoße, worin ſie ſich ihrer Eigenthümlichkeit, ihres Werths, ihres großen künftigen Berufs bewußt wird und alles Einheimiſche den Accent der gegenſätzlichen Spannung er- hält. Dieſer Gegenſatz iſt aber weſentlich der des rein Menſchlichen gegen das Barbarenthum. Neben der Wildheit, die des Feindes entriſſene Schaam den wilden Hunden und Geiern zur Beute hinwirft, iſt die zarte Knoſpe rührender Humanität erſchloſſen, der Sinn für die tieferen und feineren Kräfte der Intelligenz aufgegangen. Eine Gruppe plaſtiſch feſter Charakter- typen repräſentirt die Grundzüge des Nationalgeiſtes auf der gegebenen Stufe ſeiner ſittlichen Entwicklung. Das ganze Leben der nationalen Sitte, in naiver Verwunderung über die fremde, breitet ſich aus. Das einfachſte Thun erſcheint als ein urſprüngliches, ehrwürdiges und eine Wäſche am Fluß, beſorgt von einer Königstochter, wird zum anmuthigſten, rührendſten Bilde; auch dabei gedenkt man gern Göthe’s, wie er ſchon in Werther’s Leiden ſeinen Beruf zum epiſchen Dichter gezeigt hat durch die ſchöne Stelle über das „Waſſerholen am Brunnen, das harmloſeſte Geſchäft und das Nöthigſte, das ehemals die Töchter der Könige ſelbſt verrichteten.“ Die Kunſt hat ſich in dieſen Zuſtänden ſchon kräftig genug entwickelt, um durch Schmuck jeder Art das Bedürfniß zu veredeln, aber ſie begegnet noch einem kindlichen Staunen, Alles iſt noch friſch. Keine Lebensform iſt in dem reichen Ganzen vergeſſen, kein weſentliches Gefühl, keine Gewohnheit, kein

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/152>, abgerufen am 29.04.2024.