setzen. Die ethische Welt ist anbrüchig, im Nebel des Phantastischen, im Chaos der Abentheuer verwirren sich die ewigen, rein menschlichen Grund- gefühle, namentlich ist der Begriff der Treue schwankend geworden. Ger- vinus hat das Verdienst, unser Urtheil hierin zur Klarheit geführt, das Gesunde des nationalen Heldengedichts von dem Ungesunden des ritterlichen Epos fest geschieden zu haben.
2. Die Legende setzt eigentlich das religiöse Epos voraus, indem sie meist die Lebenswendung einer Person erzählt, die mit der Welt bricht und in den neuen Olymp der Heiligkeit aufsteigt. Sie ist ein Fragment dieses Kreises, ein Griff der transcendenten Welt in die profane, der einen Menschen aus dieser in sie herüberzieht, ein Gegenbild des ritterlichen Lebensgangs, aber ein kürzeres, weil hier die weltliche Fülle abgewiesen ist, und kein reines, weil auch des Ritters höchstes Ziel ein jenseitiges, ein Tempeldienst des heil. Graals u. s. w. ist. Sie kann sich auch auf momentanere Wunder beschränken, ist aber immer zu bezeichnen als Dar- stellung eines einzelnen Actes aus der großen Geschichte der Auflösung der Welt in das Jenseits. Der §. nennt sie auch mystische Erzählung; wir könn- ten sagen: kirchliche Novelle, wenn wir die letztere Bezeichnung schon einge- führt hätten. Wirklich hat aber das reine Mittelalter wohl gewußt, warum es das große Ganze der religiösen Sage nicht zu einem besondern Epos verarbeitete, den Weg des Heliand und der Evangelienharmonie von Ot- fried nicht verfolgte, genügenden epischen Inhalt vielmehr nur in der Ver- bindung der mystischen Sage mit der weltlichen suchte. Wir werden dieß im Folgenden begründen. So konnte wirklich nur das Fragment eines vorausgesetzten, rein religiösen Dichtungskreises aufkommen. Es ist aber die Legende keine Form von bleibendem poetischem Werthe; ihr ascetischer Geist macht sie zu einer Spezialität des Mittelalters. Die religiöse Welt- anschauung enthält allerdings in der Ironie, welche die weltliche Betrach- tung der Dinge umkehrt, eine Möglichkeit humoristischer Behandlung, die auch den modernen Dichter auf dieß Gebiet führen mag, wo denn Er- freuliches zu Tage kommt, wenn statt des kirchlich obligaten Motivs ein gesund ethisches in Wirkung gesetzt wird, wie in Göthe's trefflicher Legende von Petrus und dem Hufeisen.
3. Das Mährchen führen wir, wiewohl es der classischen Welt an dieser Form auch nicht fehlte, hier auf, weil es inniger zur Romantik ge- hört, die ja mitten im Epos schon halb Mährchen war, da hier neben dem eigentlichen Mythus des Mittelalters, den göttlichen Personen, ihren Wun- dern, ihrer mystischen Gegenwart an besonderem Orte (h. Graal) die Feen, Elfen, Zwerge u. s. w. ihre bekannte starke Rolle spielen und so das My- thische als Phantastisches auftritt. Wenn wir das Orientalische ausführlicher zu behandeln den Raum gehabt hätten, so hätte es ebensogut schon dort
ſetzen. Die ethiſche Welt iſt anbrüchig, im Nebel des Phantaſtiſchen, im Chaos der Abentheuer verwirren ſich die ewigen, rein menſchlichen Grund- gefühle, namentlich iſt der Begriff der Treue ſchwankend geworden. Ger- vinus hat das Verdienſt, unſer Urtheil hierin zur Klarheit geführt, das Geſunde des nationalen Heldengedichts von dem Ungeſunden des ritterlichen Epos feſt geſchieden zu haben.
2. Die Legende ſetzt eigentlich das religiöſe Epos voraus, indem ſie meiſt die Lebenswendung einer Perſon erzählt, die mit der Welt bricht und in den neuen Olymp der Heiligkeit aufſteigt. Sie iſt ein Fragment dieſes Kreiſes, ein Griff der tranſcendenten Welt in die profane, der einen Menſchen aus dieſer in ſie herüberzieht, ein Gegenbild des ritterlichen Lebensgangs, aber ein kürzeres, weil hier die weltliche Fülle abgewieſen iſt, und kein reines, weil auch des Ritters höchſtes Ziel ein jenſeitiges, ein Tempeldienſt des heil. Graals u. ſ. w. iſt. Sie kann ſich auch auf momentanere Wunder beſchränken, iſt aber immer zu bezeichnen als Dar- ſtellung eines einzelnen Actes aus der großen Geſchichte der Auflöſung der Welt in das Jenſeits. Der §. nennt ſie auch myſtiſche Erzählung; wir könn- ten ſagen: kirchliche Novelle, wenn wir die letztere Bezeichnung ſchon einge- führt hätten. Wirklich hat aber das reine Mittelalter wohl gewußt, warum es das große Ganze der religiöſen Sage nicht zu einem beſondern Epos verarbeitete, den Weg des Heliand und der Evangelienharmonie von Ot- fried nicht verfolgte, genügenden epiſchen Inhalt vielmehr nur in der Ver- bindung der myſtiſchen Sage mit der weltlichen ſuchte. Wir werden dieß im Folgenden begründen. So konnte wirklich nur das Fragment eines vorausgeſetzten, rein religiöſen Dichtungskreiſes aufkommen. Es iſt aber die Legende keine Form von bleibendem poetiſchem Werthe; ihr aſcetiſcher Geiſt macht ſie zu einer Spezialität des Mittelalters. Die religiöſe Welt- anſchauung enthält allerdings in der Ironie, welche die weltliche Betrach- tung der Dinge umkehrt, eine Möglichkeit humoriſtiſcher Behandlung, die auch den modernen Dichter auf dieß Gebiet führen mag, wo denn Er- freuliches zu Tage kommt, wenn ſtatt des kirchlich obligaten Motivs ein geſund ethiſches in Wirkung geſetzt wird, wie in Göthe’s trefflicher Legende von Petrus und dem Hufeiſen.
3. Das Mährchen führen wir, wiewohl es der claſſiſchen Welt an dieſer Form auch nicht fehlte, hier auf, weil es inniger zur Romantik ge- hört, die ja mitten im Epos ſchon halb Mährchen war, da hier neben dem eigentlichen Mythus des Mittelalters, den göttlichen Perſonen, ihren Wun- dern, ihrer myſtiſchen Gegenwart an beſonderem Orte (h. Graal) die Feen, Elfen, Zwerge u. ſ. w. ihre bekannte ſtarke Rolle ſpielen und ſo das My- thiſche als Phantaſtiſches auftritt. Wenn wir das Orientaliſche ausführlicher zu behandeln den Raum gehabt hätten, ſo hätte es ebenſogut ſchon dort
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gefühle, namentlich iſt der Begriff der Treue ſchwankend geworden. Ger-
vinus hat das Verdienſt, unſer Urtheil hierin zur Klarheit geführt, das
Geſunde des nationalen Heldengedichts von dem Ungeſunden des ritterlichen
Epos feſt geſchieden zu haben.
2. Die Legende ſetzt eigentlich das religiöſe Epos voraus, indem
ſie meiſt die Lebenswendung einer Perſon erzählt, die mit der Welt bricht
und in den neuen Olymp der Heiligkeit aufſteigt. Sie iſt ein Fragment
dieſes Kreiſes, ein Griff der tranſcendenten Welt in die profane, der einen
Menſchen aus dieſer in ſie herüberzieht, ein Gegenbild des ritterlichen
Lebensgangs, aber ein kürzeres, weil hier die weltliche Fülle abgewieſen
iſt, und kein reines, weil auch des Ritters höchſtes Ziel ein jenſeitiges,
ein Tempeldienſt des heil. Graals u. ſ. w. iſt. Sie kann ſich auch auf
momentanere Wunder beſchränken, iſt aber immer zu bezeichnen als Dar-
ſtellung eines einzelnen Actes aus der großen Geſchichte der Auflöſung der
Welt in das Jenſeits. Der §. nennt ſie auch myſtiſche Erzählung; wir könn-
ten ſagen: kirchliche Novelle, wenn wir die letztere Bezeichnung ſchon einge-
führt hätten. Wirklich hat aber das reine Mittelalter wohl gewußt, warum
es das große Ganze der religiöſen Sage nicht zu einem beſondern Epos
verarbeitete, den Weg des Heliand und der Evangelienharmonie von Ot-
fried nicht verfolgte, genügenden epiſchen Inhalt vielmehr nur in der Ver-
bindung der myſtiſchen Sage mit der weltlichen ſuchte. Wir werden dieß
im Folgenden begründen. So konnte wirklich nur das Fragment eines
vorausgeſetzten, rein religiöſen Dichtungskreiſes aufkommen. Es iſt aber
die Legende keine Form von bleibendem poetiſchem Werthe; ihr aſcetiſcher
Geiſt macht ſie zu einer Spezialität des Mittelalters. Die religiöſe Welt-
anſchauung enthält allerdings in der Ironie, welche die weltliche Betrach-
tung der Dinge umkehrt, eine Möglichkeit humoriſtiſcher Behandlung, die
auch den modernen Dichter auf dieß Gebiet führen mag, wo denn Er-
freuliches zu Tage kommt, wenn ſtatt des kirchlich obligaten Motivs ein
geſund ethiſches in Wirkung geſetzt wird, wie in Göthe’s trefflicher Legende
von Petrus und dem Hufeiſen.
3. Das Mährchen führen wir, wiewohl es der claſſiſchen Welt an
dieſer Form auch nicht fehlte, hier auf, weil es inniger zur Romantik ge-
hört, die ja mitten im Epos ſchon halb Mährchen war, da hier neben dem
eigentlichen Mythus des Mittelalters, den göttlichen Perſonen, ihren Wun-
dern, ihrer myſtiſchen Gegenwart an beſonderem Orte (h. Graal) die Feen,
Elfen, Zwerge u. ſ. w. ihre bekannte ſtarke Rolle ſpielen und ſo das My-
thiſche als Phantaſtiſches auftritt. Wenn wir das Orientaliſche ausführlicher
zu behandeln den Raum gehabt hätten, ſo hätte es ebenſogut ſchon dort
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/162>, abgerufen am 04.05.2024.
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