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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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g. Die dramatische Dichtung.
1. Das Wesen derselben.
§. 895.

Wie die Dichtkunst überhaupt die gegenständliche Welt, nachdem dieselbe
ganz in das subjective Empfindungsleben der Musik eingegangen, wieder ent-
faltet, so hat sie in ihren Zweigen die Subjectivität der Lyrik, welche dem
Standpuncte der Musik entspricht, wieder zur Objectivität des Epos zu er-
schließen und hiedurch diese Gegensätze in einer dritten Form zusammenzufassen,
worin, wie in dem Ganzen der Poesie das gesammte System der übrigen Künste,
so sie selbst innerhalb ihrer sich wiederholt und concentrirt.

Der Fortgang begründet sich wie jener von der Musik zu der Poesie,
aber er ergibt sich einfacher, leichter: denn dort gilt es den langen Schritt
zu einer neuen Kunst, der seinen Ansatz im ganzen System der Künste, in
der Nothwendigkeit, daß die Objectivität der bildenden Kunst aus der subjec-
tiven Innerlichkeit der Musik sich wiederherstelle, ohne sie zu verlieren, endlich
in dem Grundgesetze nehmen mußte, daß der Lebensgehalt als sichtbarer
Körper dem Auge (jetzt dem inneren) erscheine; hier dagegen gilt es nur
die Wiederherstellung dieser objectiven Welt innerhalb einer Kunst, welche
ursprünglich diesen Boden gewonnen, welche ihn verlassen hat, um noch
einmal wie die Musik, aber auf neuer Stufe, die Welt der Gegenstände in
die Welt der Subjectivität zurücknehmen, sie ganz mit dieser zu durcharbeiten
und zu durchdringen, welche ihn aber mit ganz einleuchtender Nothwendigkeit
wieder einnehmen muß. Und die dringendere Nähe dieser Nothwendigkeit
hat sich ja in der Lyrik selbst dadurch überall angekündigt, daß die Welt
der sichtbaren Dinge und ihrer bewußten Auffassung nicht blos geahnt, wie
in der Musik, an ihrer Schwelle schwebte, sondern die Empfindung immer
nach ihr greifen mußte, um an sie gelehnt sich auszusprechen; ja bis zur
Darstellung einer Handlung schritt sie fort und wir fanden die Keime des
Drama in der erzählenden Form der Lyrik. Wenn nun, was in der Lyrik
gewonnen ist, diese subjective Durchdringung der Welt, sich vereinigt mit
dem, was das Epos durch seine Objectivität voraus hat, wenn die von
dem Welt-Inhalt erfüllte Brust diesen wieder entläßt, daß er sich als ge-
genständliches, aber aus dem Innersten des Geistes gebornes Bild ausbreite,

γ. Die dramatiſche Dichtung.
1. Das Weſen derſelben.
§. 895.

Wie die Dichtkunſt überhaupt die gegenſtändliche Welt, nachdem dieſelbe
ganz in das ſubjective Empfindungsleben der Muſik eingegangen, wieder ent-
faltet, ſo hat ſie in ihren Zweigen die Subjectivität der Lyrik, welche dem
Standpuncte der Muſik entſpricht, wieder zur Objectivität des Epos zu er-
ſchließen und hiedurch dieſe Gegenſätze in einer dritten Form zuſammenzufaſſen,
worin, wie in dem Ganzen der Poeſie das geſammte Syſtem der übrigen Künſte,
ſo ſie ſelbſt innerhalb ihrer ſich wiederholt und concentrirt.

Der Fortgang begründet ſich wie jener von der Muſik zu der Poeſie,
aber er ergibt ſich einfacher, leichter: denn dort gilt es den langen Schritt
zu einer neuen Kunſt, der ſeinen Anſatz im ganzen Syſtem der Künſte, in
der Nothwendigkeit, daß die Objectivität der bildenden Kunſt aus der ſubjec-
tiven Innerlichkeit der Muſik ſich wiederherſtelle, ohne ſie zu verlieren, endlich
in dem Grundgeſetze nehmen mußte, daß der Lebensgehalt als ſichtbarer
Körper dem Auge (jetzt dem inneren) erſcheine; hier dagegen gilt es nur
die Wiederherſtellung dieſer objectiven Welt innerhalb einer Kunſt, welche
urſprünglich dieſen Boden gewonnen, welche ihn verlaſſen hat, um noch
einmal wie die Muſik, aber auf neuer Stufe, die Welt der Gegenſtände in
die Welt der Subjectivität zurücknehmen, ſie ganz mit dieſer zu durcharbeiten
und zu durchdringen, welche ihn aber mit ganz einleuchtender Nothwendigkeit
wieder einnehmen muß. Und die dringendere Nähe dieſer Nothwendigkeit
hat ſich ja in der Lyrik ſelbſt dadurch überall angekündigt, daß die Welt
der ſichtbaren Dinge und ihrer bewußten Auffaſſung nicht blos geahnt, wie
in der Muſik, an ihrer Schwelle ſchwebte, ſondern die Empfindung immer
nach ihr greifen mußte, um an ſie gelehnt ſich auszuſprechen; ja bis zur
Darſtellung einer Handlung ſchritt ſie fort und wir fanden die Keime des
Drama in der erzählenden Form der Lyrik. Wenn nun, was in der Lyrik
gewonnen iſt, dieſe ſubjective Durchdringung der Welt, ſich vereinigt mit
dem, was das Epos durch ſeine Objectivität voraus hat, wenn die von
dem Welt-Inhalt erfüllte Bruſt dieſen wieder entläßt, daß er ſich als ge-
genſtändliches, aber aus dem Innerſten des Geiſtes gebornes Bild ausbreite,

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[1375/0239] γ. Die dramatiſche Dichtung. 1. Das Weſen derſelben. §. 895. Wie die Dichtkunſt überhaupt die gegenſtändliche Welt, nachdem dieſelbe ganz in das ſubjective Empfindungsleben der Muſik eingegangen, wieder ent- faltet, ſo hat ſie in ihren Zweigen die Subjectivität der Lyrik, welche dem Standpuncte der Muſik entſpricht, wieder zur Objectivität des Epos zu er- ſchließen und hiedurch dieſe Gegenſätze in einer dritten Form zuſammenzufaſſen, worin, wie in dem Ganzen der Poeſie das geſammte Syſtem der übrigen Künſte, ſo ſie ſelbſt innerhalb ihrer ſich wiederholt und concentrirt. Der Fortgang begründet ſich wie jener von der Muſik zu der Poeſie, aber er ergibt ſich einfacher, leichter: denn dort gilt es den langen Schritt zu einer neuen Kunſt, der ſeinen Anſatz im ganzen Syſtem der Künſte, in der Nothwendigkeit, daß die Objectivität der bildenden Kunſt aus der ſubjec- tiven Innerlichkeit der Muſik ſich wiederherſtelle, ohne ſie zu verlieren, endlich in dem Grundgeſetze nehmen mußte, daß der Lebensgehalt als ſichtbarer Körper dem Auge (jetzt dem inneren) erſcheine; hier dagegen gilt es nur die Wiederherſtellung dieſer objectiven Welt innerhalb einer Kunſt, welche urſprünglich dieſen Boden gewonnen, welche ihn verlaſſen hat, um noch einmal wie die Muſik, aber auf neuer Stufe, die Welt der Gegenſtände in die Welt der Subjectivität zurücknehmen, ſie ganz mit dieſer zu durcharbeiten und zu durchdringen, welche ihn aber mit ganz einleuchtender Nothwendigkeit wieder einnehmen muß. Und die dringendere Nähe dieſer Nothwendigkeit hat ſich ja in der Lyrik ſelbſt dadurch überall angekündigt, daß die Welt der ſichtbaren Dinge und ihrer bewußten Auffaſſung nicht blos geahnt, wie in der Muſik, an ihrer Schwelle ſchwebte, ſondern die Empfindung immer nach ihr greifen mußte, um an ſie gelehnt ſich auszuſprechen; ja bis zur Darſtellung einer Handlung ſchritt ſie fort und wir fanden die Keime des Drama in der erzählenden Form der Lyrik. Wenn nun, was in der Lyrik gewonnen iſt, dieſe ſubjective Durchdringung der Welt, ſich vereinigt mit dem, was das Epos durch ſeine Objectivität voraus hat, wenn die von dem Welt-Inhalt erfüllte Bruſt dieſen wieder entläßt, daß er ſich als ge- genſtändliches, aber aus dem Innerſten des Geiſtes gebornes Bild ausbreite,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/239>, abgerufen am 29.04.2024.