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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Allgemeinen der Betrachtung. Die betrachtende Haltung des Chors hat
zunächst den tieferen Sinn, den Hegel (Aesth. Th. 3, S. 547 ff.) ausge-
sprochen hat: er stellt die unentzweite Substanz des sittlichen Bewußtseins
dar, die sich gegenüber den tiefen individuellen Collisionen, die aus ihr wie
aus dem Schooße des Erdreichs hervorschießen, in ihrer Allgemeinheit erhält.
Diese Allgemeinheit spricht der Chor durch stetige Anknüpfung der ange-
schauten Handlung an ewige Wahrheiten, an das Göttliche aus, gibt so
dem religiösen Ursprung des Drama's, der in ihm bewahrt ist, ausdrückliche
Form und erscheint in seiner Spruchweisheit zugleich als gnomischer Bestand-
theil. Aber nicht, als ob das Erschütternde der Handlung ihn nicht sub-
jectiv bewegte, er ist wesentlich fühlend, Empfindungs-Echo des tragischen
Vorgangs. Das Allgemeine, was sich in ihm darstellt, gemahnt nach dieser
Seite unwillkürlich an die Landschaft, an das allgemein Umgebende, Luft
und Erde, was mitzutönen, verhallend weiter zu tragen scheint. Hiemit
ist denn auch die lyrische Bedeutung des Chors ausgesprochen. Er empfindet
als Zuschauer im Stück, als künstlerischer Auszug aus der empirischen
Menge der Zuschauer diesen vor; die pathologische Gewalt, womit die
letzteren ergriffen werden, ist schon dadurch gebrochen, daß ihr Gefühl hier
überhaupt geläuterten Kunst-Ausdruck findet. Allein indem der Chor im
Sturme des Gefühls jene Ruhe und Allgemeinheit der Betrachtung rettet,
reinigt er auch positiv Furcht und Mitleiden, die er dem empirischen Zu-
schauer vorempfindet. W. Schlegel's Wort, er sei der idealisirte Zuschauer
(a. a. O. Th. 1, S. 77), bleibt daher ebenso treffend, als geistreich. Die
griechische Poesie entwickelt, um dieser vielseitigen und großartigen Bedeu-
tung zu genügen, auf diesem Puncte den höchsten Glanz der Lyrik. Das
Band zwischen dem Drama und dieser Form schlingt sich aber auch in die
Handlung selbst hinüber, da die Personen derselben von der Rede in Wech-
selgesang mit dem Chor übergehen; der Gesang wird von der Musik begleitet
und der Chor stellt ihre Rhythmen zugleich in orchestischer Bewegung räumlich
dar. Wir sehen also eine Verbindung der Zweige der Poesie mit Musik
und Tanzkunst, die ebenso imposant und lebensvoll, als unserem auf Theilung
der Gattungen gerichteten Sinne fremd ist. Wir müssen trotz aller Groß-
artigkeit dieser Lebensfülle eine solche Verwachsung für einen unreifen
Zustand erklären; das Drama kann in diesem Prachtgewande nicht zur
klaren Ausbildung seiner tiefsten Bedingungen, eines hellen Bewußtseins
von Charakter, Motiv und Schicksal gelangen, während es in der neueren
Zeit seine Reife freilich um den theuren Preis jener unmittelbaren Leben-
digkeit der Verschlingung mit andern Zweigen und Künsten erkauft. Es
verhält sich ähnlich wie mit der Polychromie in Architektur und Sculptur.


Allgemeinen der Betrachtung. Die betrachtende Haltung des Chors hat
zunächſt den tieferen Sinn, den Hegel (Aeſth. Th. 3, S. 547 ff.) ausge-
ſprochen hat: er ſtellt die unentzweite Subſtanz des ſittlichen Bewußtſeins
dar, die ſich gegenüber den tiefen individuellen Colliſionen, die aus ihr wie
aus dem Schooße des Erdreichs hervorſchießen, in ihrer Allgemeinheit erhält.
Dieſe Allgemeinheit ſpricht der Chor durch ſtetige Anknüpfung der ange-
ſchauten Handlung an ewige Wahrheiten, an das Göttliche aus, gibt ſo
dem religiöſen Urſprung des Drama’s, der in ihm bewahrt iſt, ausdrückliche
Form und erſcheint in ſeiner Spruchweisheit zugleich als gnomiſcher Beſtand-
theil. Aber nicht, als ob das Erſchütternde der Handlung ihn nicht ſub-
jectiv bewegte, er iſt weſentlich fühlend, Empfindungs-Echo des tragiſchen
Vorgangs. Das Allgemeine, was ſich in ihm darſtellt, gemahnt nach dieſer
Seite unwillkürlich an die Landſchaft, an das allgemein Umgebende, Luft
und Erde, was mitzutönen, verhallend weiter zu tragen ſcheint. Hiemit
iſt denn auch die lyriſche Bedeutung des Chors ausgeſprochen. Er empfindet
als Zuſchauer im Stück, als künſtleriſcher Auszug aus der empiriſchen
Menge der Zuſchauer dieſen vor; die pathologiſche Gewalt, womit die
letzteren ergriffen werden, iſt ſchon dadurch gebrochen, daß ihr Gefühl hier
überhaupt geläuterten Kunſt-Ausdruck findet. Allein indem der Chor im
Sturme des Gefühls jene Ruhe und Allgemeinheit der Betrachtung rettet,
reinigt er auch poſitiv Furcht und Mitleiden, die er dem empiriſchen Zu-
ſchauer vorempfindet. W. Schlegel’s Wort, er ſei der idealiſirte Zuſchauer
(a. a. O. Th. 1, S. 77), bleibt daher ebenſo treffend, als geiſtreich. Die
griechiſche Poeſie entwickelt, um dieſer vielſeitigen und großartigen Bedeu-
tung zu genügen, auf dieſem Puncte den höchſten Glanz der Lyrik. Das
Band zwiſchen dem Drama und dieſer Form ſchlingt ſich aber auch in die
Handlung ſelbſt hinüber, da die Perſonen derſelben von der Rede in Wech-
ſelgeſang mit dem Chor übergehen; der Geſang wird von der Muſik begleitet
und der Chor ſtellt ihre Rhythmen zugleich in orcheſtiſcher Bewegung räumlich
dar. Wir ſehen alſo eine Verbindung der Zweige der Poeſie mit Muſik
und Tanzkunſt, die ebenſo impoſant und lebensvoll, als unſerem auf Theilung
der Gattungen gerichteten Sinne fremd iſt. Wir müſſen trotz aller Groß-
artigkeit dieſer Lebensfülle eine ſolche Verwachſung für einen unreifen
Zuſtand erklären; das Drama kann in dieſem Prachtgewande nicht zur
klaren Ausbildung ſeiner tiefſten Bedingungen, eines hellen Bewußtſeins
von Charakter, Motiv und Schickſal gelangen, während es in der neueren
Zeit ſeine Reife freilich um den theuren Preis jener unmittelbaren Leben-
digkeit der Verſchlingung mit andern Zweigen und Künſten erkauft. Es
verhält ſich ähnlich wie mit der Polychromie in Architektur und Sculptur.


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[1411/0275] Allgemeinen der Betrachtung. Die betrachtende Haltung des Chors hat zunächſt den tieferen Sinn, den Hegel (Aeſth. Th. 3, S. 547 ff.) ausge- ſprochen hat: er ſtellt die unentzweite Subſtanz des ſittlichen Bewußtſeins dar, die ſich gegenüber den tiefen individuellen Colliſionen, die aus ihr wie aus dem Schooße des Erdreichs hervorſchießen, in ihrer Allgemeinheit erhält. Dieſe Allgemeinheit ſpricht der Chor durch ſtetige Anknüpfung der ange- ſchauten Handlung an ewige Wahrheiten, an das Göttliche aus, gibt ſo dem religiöſen Urſprung des Drama’s, der in ihm bewahrt iſt, ausdrückliche Form und erſcheint in ſeiner Spruchweisheit zugleich als gnomiſcher Beſtand- theil. Aber nicht, als ob das Erſchütternde der Handlung ihn nicht ſub- jectiv bewegte, er iſt weſentlich fühlend, Empfindungs-Echo des tragiſchen Vorgangs. Das Allgemeine, was ſich in ihm darſtellt, gemahnt nach dieſer Seite unwillkürlich an die Landſchaft, an das allgemein Umgebende, Luft und Erde, was mitzutönen, verhallend weiter zu tragen ſcheint. Hiemit iſt denn auch die lyriſche Bedeutung des Chors ausgeſprochen. Er empfindet als Zuſchauer im Stück, als künſtleriſcher Auszug aus der empiriſchen Menge der Zuſchauer dieſen vor; die pathologiſche Gewalt, womit die letzteren ergriffen werden, iſt ſchon dadurch gebrochen, daß ihr Gefühl hier überhaupt geläuterten Kunſt-Ausdruck findet. Allein indem der Chor im Sturme des Gefühls jene Ruhe und Allgemeinheit der Betrachtung rettet, reinigt er auch poſitiv Furcht und Mitleiden, die er dem empiriſchen Zu- ſchauer vorempfindet. W. Schlegel’s Wort, er ſei der idealiſirte Zuſchauer (a. a. O. Th. 1, S. 77), bleibt daher ebenſo treffend, als geiſtreich. Die griechiſche Poeſie entwickelt, um dieſer vielſeitigen und großartigen Bedeu- tung zu genügen, auf dieſem Puncte den höchſten Glanz der Lyrik. Das Band zwiſchen dem Drama und dieſer Form ſchlingt ſich aber auch in die Handlung ſelbſt hinüber, da die Perſonen derſelben von der Rede in Wech- ſelgeſang mit dem Chor übergehen; der Geſang wird von der Muſik begleitet und der Chor ſtellt ihre Rhythmen zugleich in orcheſtiſcher Bewegung räumlich dar. Wir ſehen alſo eine Verbindung der Zweige der Poeſie mit Muſik und Tanzkunſt, die ebenſo impoſant und lebensvoll, als unſerem auf Theilung der Gattungen gerichteten Sinne fremd iſt. Wir müſſen trotz aller Groß- artigkeit dieſer Lebensfülle eine ſolche Verwachſung für einen unreifen Zuſtand erklären; das Drama kann in dieſem Prachtgewande nicht zur klaren Ausbildung ſeiner tiefſten Bedingungen, eines hellen Bewußtſeins von Charakter, Motiv und Schickſal gelangen, während es in der neueren Zeit ſeine Reife freilich um den theuren Preis jener unmittelbaren Leben- digkeit der Verſchlingung mit andern Zweigen und Künſten erkauft. Es verhält ſich ähnlich wie mit der Polychromie in Architektur und Sculptur.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/275>, abgerufen am 29.04.2024.