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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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namentlich in England so belehrend über das innerste Wesen und der noth-
wendige Gang dieser Zustände sich entwickelt hat: ein ebenso gewaltiger,
als durch seine Massenhaftigkeit und Rohheit schwieriger Stoff, dem Sha-
kespeare trotz allen zugegebenen Mängeln jenes Cyclus doch die tragische
Idealität abgewonnen hat, daß die rauhen Kräfte als die verstockten Werk-
zeuge eines ungeheuern Schicksals erscheinen und so ihren Gipfel in der
dämonischen Gestalt Richard's III finden, in welchem ihre ganze Wildheit
sich zum gründlich Bösen ansammelt, hiemit aber auch sich zerstört und der
neuen Staatsordnung Platz schafft. Einen klaren Prinzipienkampf stellt
der Kampf des Pabstthums und Kaiserthums dar, es fehlt ihm aber im
Einzelnen und Ganzen doch zu sehr an wirksamen Schlußpuncten. Der
günstigste Stoff der Tragödie liegt offenbar in den großen Gährungsmo-
menten der neueren Zeit; die radical einschneidenden Naturen sind häufiger
und handeln nicht nur mit hellem Bewußtsein, sondern haben auch das
tiefer in sich concentrirte, der Einfachheit typischer Objectivität entwachsene
Leben, dessen das Drama bedarf. Als Göthe und Schiller nach Egmont,
Fiesko, Don Carlos, Wallenstein, Maria Stuart griffen, zeigten sie dem
neueren Drama den richtigen Weg (vergl. Gervinus a. a. O. S. 492. 493).
Allerdings werden, je näher die moderne Zeit rückt, die Culturformen um
so ungünstiger, doch lockert sich in den Tagen der Auflösung und Prinzi-
pienkämpfe auch die prosaische Ordnung der Dinge.

In der dritten Sphäre soll durch den Ausdruck: bürgerliches und
Privatleben derjenige Stoff, der soziale Fragen, Conflicte, die sich um die
Einrichtung der Gesellschaft drehen, als dramatischen Inhalt mit sich bringt,
von dem reinmenschlichen unterschieden werden, dessen Interesse in den großen
Empfindungsmotiven der Liebe, der Pietät, der Freundschaft liegt. Wir
kommen auf diesen Punct bei der Unterscheidung von Prinzipien- und
Charaktertragödie zurück. Im ungenaueren, gewöhnlichen Sprachgebrauche
nennt man das ganze Gebiet das bürgerliche Drama. Beiderlei Stoffe haben
nicht die monumentale Großheit wie jene ersteren; sie nähern sich aber der-
selben, wenn das Geschichtliche, Oeffentliche so den Hintergrund bildet, wie
in Romeo und Julie, im Othello. Es ist die ähnliche Erhöhung, wie sie
W. Scott dem Romane, Göthe in Hermann und Dorothea der Idylle
gegeben hat. Der Dichter wird hier meist aus zufälliger Kunde oder aus
poetischer Ueberlieferung, namentlich Novellen schöpfen. -- Der Begriff des
Historischen steht zu dem des Bürgerlichen und Privaten zunächst nicht im
Verhältniß einer logischen Unterscheidung; doch erhellt, daß es sich dort um
die großen Gegenstände handelt, welche die Geschichte mit Rothwendigkeit
aufzeichnet, hier aber um Solches, was sie je nach Umständen aufzeichnet
oder nicht. Gegen völlig freie Erfindung brauchen wir uns nach dem,
was die Lehre von der Phantasie aufgestellt hat, nicht mehr auszusprechen;

namentlich in England ſo belehrend über das innerſte Weſen und der noth-
wendige Gang dieſer Zuſtände ſich entwickelt hat: ein ebenſo gewaltiger,
als durch ſeine Maſſenhaftigkeit und Rohheit ſchwieriger Stoff, dem Sha-
kespeare trotz allen zugegebenen Mängeln jenes Cyclus doch die tragiſche
Idealität abgewonnen hat, daß die rauhen Kräfte als die verſtockten Werk-
zeuge eines ungeheuern Schickſals erſcheinen und ſo ihren Gipfel in der
dämoniſchen Geſtalt Richard’s III finden, in welchem ihre ganze Wildheit
ſich zum gründlich Böſen anſammelt, hiemit aber auch ſich zerſtört und der
neuen Staatsordnung Platz ſchafft. Einen klaren Prinzipienkampf ſtellt
der Kampf des Pabſtthums und Kaiſerthums dar, es fehlt ihm aber im
Einzelnen und Ganzen doch zu ſehr an wirkſamen Schlußpuncten. Der
günſtigſte Stoff der Tragödie liegt offenbar in den großen Gährungsmo-
menten der neueren Zeit; die radical einſchneidenden Naturen ſind häufiger
und handeln nicht nur mit hellem Bewußtſein, ſondern haben auch das
tiefer in ſich concentrirte, der Einfachheit typiſcher Objectivität entwachſene
Leben, deſſen das Drama bedarf. Als Göthe und Schiller nach Egmont,
Fiesko, Don Carlos, Wallenſtein, Maria Stuart griffen, zeigten ſie dem
neueren Drama den richtigen Weg (vergl. Gervinus a. a. O. S. 492. 493).
Allerdings werden, je näher die moderne Zeit rückt, die Culturformen um
ſo ungünſtiger, doch lockert ſich in den Tagen der Auflöſung und Prinzi-
pienkämpfe auch die proſaiſche Ordnung der Dinge.

In der dritten Sphäre ſoll durch den Ausdruck: bürgerliches und
Privatleben derjenige Stoff, der ſoziale Fragen, Conflicte, die ſich um die
Einrichtung der Geſellſchaft drehen, als dramatiſchen Inhalt mit ſich bringt,
von dem reinmenſchlichen unterſchieden werden, deſſen Intereſſe in den großen
Empfindungsmotiven der Liebe, der Pietät, der Freundſchaft liegt. Wir
kommen auf dieſen Punct bei der Unterſcheidung von Prinzipien- und
Charaktertragödie zurück. Im ungenaueren, gewöhnlichen Sprachgebrauche
nennt man das ganze Gebiet das bürgerliche Drama. Beiderlei Stoffe haben
nicht die monumentale Großheit wie jene erſteren; ſie nähern ſich aber der-
ſelben, wenn das Geſchichtliche, Oeffentliche ſo den Hintergrund bildet, wie
in Romeo und Julie, im Othello. Es iſt die ähnliche Erhöhung, wie ſie
W. Scott dem Romane, Göthe in Hermann und Dorothea der Idylle
gegeben hat. Der Dichter wird hier meiſt aus zufälliger Kunde oder aus
poetiſcher Ueberlieferung, namentlich Novellen ſchöpfen. — Der Begriff des
Hiſtoriſchen ſteht zu dem des Bürgerlichen und Privaten zunächſt nicht im
Verhältniß einer logiſchen Unterſcheidung; doch erhellt, daß es ſich dort um
die großen Gegenſtände handelt, welche die Geſchichte mit Rothwendigkeit
aufzeichnet, hier aber um Solches, was ſie je nach Umſtänden aufzeichnet
oder nicht. Gegen völlig freie Erfindung brauchen wir uns nach dem,
was die Lehre von der Phantaſie aufgeſtellt hat, nicht mehr auszuſprechen;

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[1422/0286] namentlich in England ſo belehrend über das innerſte Weſen und der noth- wendige Gang dieſer Zuſtände ſich entwickelt hat: ein ebenſo gewaltiger, als durch ſeine Maſſenhaftigkeit und Rohheit ſchwieriger Stoff, dem Sha- kespeare trotz allen zugegebenen Mängeln jenes Cyclus doch die tragiſche Idealität abgewonnen hat, daß die rauhen Kräfte als die verſtockten Werk- zeuge eines ungeheuern Schickſals erſcheinen und ſo ihren Gipfel in der dämoniſchen Geſtalt Richard’s III finden, in welchem ihre ganze Wildheit ſich zum gründlich Böſen anſammelt, hiemit aber auch ſich zerſtört und der neuen Staatsordnung Platz ſchafft. Einen klaren Prinzipienkampf ſtellt der Kampf des Pabſtthums und Kaiſerthums dar, es fehlt ihm aber im Einzelnen und Ganzen doch zu ſehr an wirkſamen Schlußpuncten. Der günſtigſte Stoff der Tragödie liegt offenbar in den großen Gährungsmo- menten der neueren Zeit; die radical einſchneidenden Naturen ſind häufiger und handeln nicht nur mit hellem Bewußtſein, ſondern haben auch das tiefer in ſich concentrirte, der Einfachheit typiſcher Objectivität entwachſene Leben, deſſen das Drama bedarf. Als Göthe und Schiller nach Egmont, Fiesko, Don Carlos, Wallenſtein, Maria Stuart griffen, zeigten ſie dem neueren Drama den richtigen Weg (vergl. Gervinus a. a. O. S. 492. 493). Allerdings werden, je näher die moderne Zeit rückt, die Culturformen um ſo ungünſtiger, doch lockert ſich in den Tagen der Auflöſung und Prinzi- pienkämpfe auch die proſaiſche Ordnung der Dinge. In der dritten Sphäre ſoll durch den Ausdruck: bürgerliches und Privatleben derjenige Stoff, der ſoziale Fragen, Conflicte, die ſich um die Einrichtung der Geſellſchaft drehen, als dramatiſchen Inhalt mit ſich bringt, von dem reinmenſchlichen unterſchieden werden, deſſen Intereſſe in den großen Empfindungsmotiven der Liebe, der Pietät, der Freundſchaft liegt. Wir kommen auf dieſen Punct bei der Unterſcheidung von Prinzipien- und Charaktertragödie zurück. Im ungenaueren, gewöhnlichen Sprachgebrauche nennt man das ganze Gebiet das bürgerliche Drama. Beiderlei Stoffe haben nicht die monumentale Großheit wie jene erſteren; ſie nähern ſich aber der- ſelben, wenn das Geſchichtliche, Oeffentliche ſo den Hintergrund bildet, wie in Romeo und Julie, im Othello. Es iſt die ähnliche Erhöhung, wie ſie W. Scott dem Romane, Göthe in Hermann und Dorothea der Idylle gegeben hat. Der Dichter wird hier meiſt aus zufälliger Kunde oder aus poetiſcher Ueberlieferung, namentlich Novellen ſchöpfen. — Der Begriff des Hiſtoriſchen ſteht zu dem des Bürgerlichen und Privaten zunächſt nicht im Verhältniß einer logiſchen Unterſcheidung; doch erhellt, daß es ſich dort um die großen Gegenſtände handelt, welche die Geſchichte mit Rothwendigkeit aufzeichnet, hier aber um Solches, was ſie je nach Umſtänden aufzeichnet oder nicht. Gegen völlig freie Erfindung brauchen wir uns nach dem, was die Lehre von der Phantaſie aufgeſtellt hat, nicht mehr auszuſprechen;

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/286>, abgerufen am 30.04.2024.