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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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gegen solche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem hollän-
dischen Genregemälde ähnlich, eine schwunglose Darstellung des Familien-
und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Lessingisch-Ifflandischen
Zeit. Man könnte diese sittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach
Aristoteles (Poetik C. 18) die ethische nennen, wiewohl er nicht ganz den-
selben Begriff mit dem Worte verbindet, sondern mehr ein Gemälde passiver
Seelenzustände im Auge hat gegenüber der starken, heroischen Leidenschaft,
die den Inhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetische nennt.
Was wir unter Charakter im stricten Sinne des Wortes verstehen, ist aller-
dings auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es ist ein moderner Be-
griff. -- Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus
dem ersten Theile die dort unterschiedenen Formen des subjectiv Erhabenen
herauf. Demnach wäre die erste Form die Tragödie der Leidenschaft.
Sie unterscheidet sich von den andern dadurch, daß die Leidenschaft mit reifem
und geschlossenem Charakter zwar zusammentreffen kann, aber nicht muß.
Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß
im Wesen des modernen Ideals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen,
die noch nicht zum Charakter geschmiedet sein können, das Pathos der ver-
letzten Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigen-
schaften, aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen
vergiftet die Eifersucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen
Reife gelangt ist. Die Tragödie der Leidenschaft wird häufig zugleich Sit-
tenbild im kräftigsten Sinne des Worts; so sehen wir im König Lear eine
ganze Generation entartet. Die Tragödie des Bösen hat Shakespeare
geschaffen; was auch immer nach ihm in dieser Richtung noch entstan-
den ist oder entstehen mag: Richard III und Makbeth (der aber noch
andere Seiten hat, die in andern Zusammenhang gehören,) sind einzelne
Werke, die den absoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die
Tragödie des Bösen und der Leidenschaft sich naturgemäß verbindet, zeigt
Othello und Lear. Die Tragödie des guten Willens ist natürlich nicht
ein Bild der fleckenlosen Tugend, sondern des edlen Strebens und Wirkens
mit Schuld, wenigstens nicht ohne innern Kampf, wie ihn Göthe's Iphi-
genie gegen die Versuchung zur Lüge und zum Undank besteht. Diese
Gattung ist jedoch in der ächten Poesie schwach vertreten, weil es sehr
schwer ist, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu ent-
ziehen, den das Tragische fordert, und sehr leicht, in ein Gemälde der platten
Rechtschaffenheit und das falsche Bild des Tragischen zu verfallen, wie dieß
im bürgerlich rührenden Schauspiele der Fall war.

Es entsteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzustellen
sei, nämlich eine Tragödie des Bewußtseins. Im Makbeth fällt schließlich
das stärkste Gewicht auf das Gewissen, seine Phänomene, Bewegungen,

gegen ſolche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem hollän-
diſchen Genregemälde ähnlich, eine ſchwungloſe Darſtellung des Familien-
und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Leſſingiſch-Ifflandiſchen
Zeit. Man könnte dieſe ſittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach
Ariſtoteles (Poetik C. 18) die ethiſche nennen, wiewohl er nicht ganz den-
ſelben Begriff mit dem Worte verbindet, ſondern mehr ein Gemälde paſſiver
Seelenzuſtände im Auge hat gegenüber der ſtarken, heroiſchen Leidenſchaft,
die den Inhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetiſche nennt.
Was wir unter Charakter im ſtricten Sinne des Wortes verſtehen, iſt aller-
dings auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es iſt ein moderner Be-
griff. — Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus
dem erſten Theile die dort unterſchiedenen Formen des ſubjectiv Erhabenen
herauf. Demnach wäre die erſte Form die Tragödie der Leidenſchaft.
Sie unterſcheidet ſich von den andern dadurch, daß die Leidenſchaft mit reifem
und geſchloſſenem Charakter zwar zuſammentreffen kann, aber nicht muß.
Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß
im Weſen des modernen Ideals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen,
die noch nicht zum Charakter geſchmiedet ſein können, das Pathos der ver-
letzten Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigen-
ſchaften, aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen
vergiftet die Eiferſucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen
Reife gelangt iſt. Die Tragödie der Leidenſchaft wird häufig zugleich Sit-
tenbild im kräftigſten Sinne des Worts; ſo ſehen wir im König Lear eine
ganze Generation entartet. Die Tragödie des Böſen hat Shakespeare
geſchaffen; was auch immer nach ihm in dieſer Richtung noch entſtan-
den iſt oder entſtehen mag: Richard III und Makbeth (der aber noch
andere Seiten hat, die in andern Zuſammenhang gehören,) ſind einzelne
Werke, die den abſoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die
Tragödie des Böſen und der Leidenſchaft ſich naturgemäß verbindet, zeigt
Othello und Lear. Die Tragödie des guten Willens iſt natürlich nicht
ein Bild der fleckenloſen Tugend, ſondern des edlen Strebens und Wirkens
mit Schuld, wenigſtens nicht ohne innern Kampf, wie ihn Göthe’s Iphi-
genie gegen die Verſuchung zur Lüge und zum Undank beſteht. Dieſe
Gattung iſt jedoch in der ächten Poeſie ſchwach vertreten, weil es ſehr
ſchwer iſt, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu ent-
ziehen, den das Tragiſche fordert, und ſehr leicht, in ein Gemälde der platten
Rechtſchaffenheit und das falſche Bild des Tragiſchen zu verfallen, wie dieß
im bürgerlich rührenden Schauſpiele der Fall war.

Es entſteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzuſtellen
ſei, nämlich eine Tragödie des Bewußtſeins. Im Makbeth fällt ſchließlich
das ſtärkſte Gewicht auf das Gewiſſen, ſeine Phänomene, Bewegungen,

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[1425/0289] gegen ſolche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem hollän- diſchen Genregemälde ähnlich, eine ſchwungloſe Darſtellung des Familien- und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Leſſingiſch-Ifflandiſchen Zeit. Man könnte dieſe ſittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach Ariſtoteles (Poetik C. 18) die ethiſche nennen, wiewohl er nicht ganz den- ſelben Begriff mit dem Worte verbindet, ſondern mehr ein Gemälde paſſiver Seelenzuſtände im Auge hat gegenüber der ſtarken, heroiſchen Leidenſchaft, die den Inhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetiſche nennt. Was wir unter Charakter im ſtricten Sinne des Wortes verſtehen, iſt aller- dings auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es iſt ein moderner Be- griff. — Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus dem erſten Theile die dort unterſchiedenen Formen des ſubjectiv Erhabenen herauf. Demnach wäre die erſte Form die Tragödie der Leidenſchaft. Sie unterſcheidet ſich von den andern dadurch, daß die Leidenſchaft mit reifem und geſchloſſenem Charakter zwar zuſammentreffen kann, aber nicht muß. Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß im Weſen des modernen Ideals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen, die noch nicht zum Charakter geſchmiedet ſein können, das Pathos der ver- letzten Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigen- ſchaften, aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen vergiftet die Eiferſucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen Reife gelangt iſt. Die Tragödie der Leidenſchaft wird häufig zugleich Sit- tenbild im kräftigſten Sinne des Worts; ſo ſehen wir im König Lear eine ganze Generation entartet. Die Tragödie des Böſen hat Shakespeare geſchaffen; was auch immer nach ihm in dieſer Richtung noch entſtan- den iſt oder entſtehen mag: Richard III und Makbeth (der aber noch andere Seiten hat, die in andern Zuſammenhang gehören,) ſind einzelne Werke, die den abſoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die Tragödie des Böſen und der Leidenſchaft ſich naturgemäß verbindet, zeigt Othello und Lear. Die Tragödie des guten Willens iſt natürlich nicht ein Bild der fleckenloſen Tugend, ſondern des edlen Strebens und Wirkens mit Schuld, wenigſtens nicht ohne innern Kampf, wie ihn Göthe’s Iphi- genie gegen die Verſuchung zur Lüge und zum Undank beſteht. Dieſe Gattung iſt jedoch in der ächten Poeſie ſchwach vertreten, weil es ſehr ſchwer iſt, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu ent- ziehen, den das Tragiſche fordert, und ſehr leicht, in ein Gemälde der platten Rechtſchaffenheit und das falſche Bild des Tragiſchen zu verfallen, wie dieß im bürgerlich rührenden Schauſpiele der Fall war. Es entſteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzuſtellen ſei, nämlich eine Tragödie des Bewußtſeins. Im Makbeth fällt ſchließlich das ſtärkſte Gewicht auf das Gewiſſen, ſeine Phänomene, Bewegungen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/289>, abgerufen am 30.04.2024.