Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

diese Hirten sind zu allgemein, zu griechisch gehalten,
sind lauter gebildete Redner und das Gute, das
Muthige gelingt ihnen nur so, als ob es keine Kobolde
gäbe. Doch das sei, ich muß zugeben, daß der Dichter
die Ueberfahrt des Baumgarten und den Pfeilschuß
gelingen lassen muß, um da anzukommen, wo er das
erhaben tragische Mißlingen soll eintreten lassen. Die
Szene des Tellsprungs dürfte nun keineswegs nur
erzählt, müßte dargestellt werden, und mit unseren
theatralischen Mitteln wäre das möglich. Also: Tell
springt, gleitet aus, fällt in's Wasser. Wird heraus¬
gefischt, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen.
Geßler ruft mit teuflischem Tone: ,So, jetzt verklaba¬
stert ihm den Sitztheil recht tüchtig!' Es geschieht, und
zwar um so wirksamer, da Tell's Hosen bereits durch
die Nässe gespannt sind. Erlauben Sie hier eine
kleine Abschweifung. Ich trage mich mit der Idee,
den antiken Chor in die Tragödie hohen Styls wieder
einzuführen, so auch hier. Der Chor spricht bekannt¬
lich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur
Verbreitung nützlicher Kenntnisse verschiedener Art be¬
nützt werden. Hier nun, an dieser Stelle, hätte ein
am Lande befindlicher Chor von Kunstfreunden aus
Geßler's Umgebung -- ein Anachronismus, ich gebe
es zu, doch ein poetisch erlaubter -- einige Sätze über
die Bedeutung der sogenannten nassen Gewänder in
der Skulptur vorzutragen."

dieſe Hirten ſind zu allgemein, zu griechiſch gehalten,
ſind lauter gebildete Redner und das Gute, das
Muthige gelingt ihnen nur ſo, als ob es keine Kobolde
gäbe. Doch das ſei, ich muß zugeben, daß der Dichter
die Ueberfahrt des Baumgarten und den Pfeilſchuß
gelingen laſſen muß, um da anzukommen, wo er das
erhaben tragiſche Mißlingen ſoll eintreten laſſen. Die
Szene des Tellſprungs dürfte nun keineswegs nur
erzählt, müßte dargeſtellt werden, und mit unſeren
theatraliſchen Mitteln wäre das möglich. Alſo: Tell
ſpringt, gleitet aus, fällt in's Waſſer. Wird heraus¬
gefiſcht, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen.
Geßler ruft mit teufliſchem Tone: ‚So, jetzt verklaba¬
ſtert ihm den Sitztheil recht tüchtig!‘ Es geſchieht, und
zwar um ſo wirkſamer, da Tell's Hoſen bereits durch
die Näſſe geſpannt ſind. Erlauben Sie hier eine
kleine Abſchweifung. Ich trage mich mit der Idee,
den antiken Chor in die Tragödie hohen Styls wieder
einzuführen, ſo auch hier. Der Chor ſpricht bekannt¬
lich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur
Verbreitung nützlicher Kenntniſſe verſchiedener Art be¬
nützt werden. Hier nun, an dieſer Stelle, hätte ein
am Lande befindlicher Chor von Kunſtfreunden aus
Geßler's Umgebung — ein Anachronismus, ich gebe
es zu, doch ein poetiſch erlaubter — einige Sätze über
die Bedeutung der ſogenannten naſſen Gewänder in
der Skulptur vorzutragen.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0061" n="48"/>
die&#x017F;e Hirten &#x017F;ind zu allgemein, zu griechi&#x017F;ch gehalten,<lb/>
&#x017F;ind lauter gebildete Redner und das Gute, das<lb/>
Muthige gelingt ihnen nur &#x017F;o, als ob es keine Kobolde<lb/>
gäbe. Doch das &#x017F;ei, ich muß zugeben, daß der Dichter<lb/>
die Ueberfahrt des Baumgarten und den Pfeil&#x017F;chuß<lb/>
gelingen la&#x017F;&#x017F;en muß, um da anzukommen, wo er das<lb/>
erhaben tragi&#x017F;che Mißlingen &#x017F;oll eintreten la&#x017F;&#x017F;en. Die<lb/>
Szene des Tell&#x017F;prungs dürfte nun keineswegs nur<lb/>
erzählt, müßte darge&#x017F;tellt werden, und mit un&#x017F;eren<lb/>
theatrali&#x017F;chen Mitteln wäre das möglich. Al&#x017F;o: Tell<lb/>
&#x017F;pringt, gleitet aus, fällt in's Wa&#x017F;&#x017F;er. Wird heraus¬<lb/>
gefi&#x017F;cht, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen.<lb/>
Geßler ruft mit teufli&#x017F;chem Tone: &#x201A;So, jetzt verklaba¬<lb/>
&#x017F;tert ihm den Sitztheil recht tüchtig!&#x2018; Es ge&#x017F;chieht, und<lb/>
zwar um &#x017F;o wirk&#x017F;amer, da Tell's Ho&#x017F;en bereits durch<lb/>
die Nä&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;pannt &#x017F;ind. Erlauben Sie hier eine<lb/>
kleine Ab&#x017F;chweifung. Ich trage mich mit der Idee,<lb/>
den antiken Chor in die Tragödie hohen Styls wieder<lb/>
einzuführen, &#x017F;o auch hier. Der Chor &#x017F;pricht bekannt¬<lb/>
lich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur<lb/>
Verbreitung nützlicher Kenntni&#x017F;&#x017F;e ver&#x017F;chiedener Art be¬<lb/>
nützt werden. Hier nun, an die&#x017F;er Stelle, hätte ein<lb/>
am Lande befindlicher Chor von Kun&#x017F;tfreunden aus<lb/>
Geßler's Umgebung &#x2014; ein Anachronismus, ich gebe<lb/>
es zu, doch ein poeti&#x017F;ch erlaubter &#x2014; einige Sätze über<lb/>
die Bedeutung der &#x017F;ogenannten na&#x017F;&#x017F;en Gewänder in<lb/>
der Skulptur vorzutragen.&#x201C;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0061] dieſe Hirten ſind zu allgemein, zu griechiſch gehalten, ſind lauter gebildete Redner und das Gute, das Muthige gelingt ihnen nur ſo, als ob es keine Kobolde gäbe. Doch das ſei, ich muß zugeben, daß der Dichter die Ueberfahrt des Baumgarten und den Pfeilſchuß gelingen laſſen muß, um da anzukommen, wo er das erhaben tragiſche Mißlingen ſoll eintreten laſſen. Die Szene des Tellſprungs dürfte nun keineswegs nur erzählt, müßte dargeſtellt werden, und mit unſeren theatraliſchen Mitteln wäre das möglich. Alſo: Tell ſpringt, gleitet aus, fällt in's Waſſer. Wird heraus¬ gefiſcht, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen. Geßler ruft mit teufliſchem Tone: ‚So, jetzt verklaba¬ ſtert ihm den Sitztheil recht tüchtig!‘ Es geſchieht, und zwar um ſo wirkſamer, da Tell's Hoſen bereits durch die Näſſe geſpannt ſind. Erlauben Sie hier eine kleine Abſchweifung. Ich trage mich mit der Idee, den antiken Chor in die Tragödie hohen Styls wieder einzuführen, ſo auch hier. Der Chor ſpricht bekannt¬ lich allgemeine Betrachtungen aus und könnte zur Verbreitung nützlicher Kenntniſſe verſchiedener Art be¬ nützt werden. Hier nun, an dieſer Stelle, hätte ein am Lande befindlicher Chor von Kunſtfreunden aus Geßler's Umgebung — ein Anachronismus, ich gebe es zu, doch ein poetiſch erlaubter — einige Sätze über die Bedeutung der ſogenannten naſſen Gewänder in der Skulptur vorzutragen.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/61
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/61>, abgerufen am 16.05.2024.