Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

die Masse, um das Volk, das sich auf Symbolik ein- für
allemal nicht versteht. Und da stehen wir vor einer
noch ganz andern, stehen wir erst vor der eigentlichen,
verzweifelten Amphibolie -- :

Ein Satz: Die Masse braucht in alle Ewigkeit ein ge¬
glaubtes
Bilderbuch. Wie viel immer das Pigment
schaden mag, es ist doch auch Stütze. -- Religion fort:
auch Moral fort. Gefärbte Religion doch besser als keine.

Anderer Satz: Ein sehr großer Theil des Volks
ist allerdings aus der Bilderwelt herausgewachsen, das
nimmt nun aber zu in geflügelter Progression; noch
ist es nicht die Mehrheit, aber bald wird sie in die
Strömung gezogen sein. Wer nur irgend sich etwas
umsieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer
von Physik und Geschichte auch nur einigen Lichtstrahl
empfängt, ist rein fertig mit Allem, was übersinnliche
Figur, was Regierung des Universums von außen,
was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment.
Nun sind aber alle diese hülflos in's Leere geworfen.
Die gefärbte Religion sind sie los, zur reinen reicht
es bei ihnen nicht, und wenn es reichte, wer reicht
sie ihnen? Niemand. Unsere Priester bieten nimmer¬
mehr Religion ohne Pigment, und man muß auf
Grund des ersten Satzes zugeben: es wäre nicht mög¬
lich. Eigentlich ist die reine Religion allerdings nicht
farblos. Zur Farbe hat sie nichts Geringeres als die
Weltgeschichte, die mythenlos wahre. Das aber ist

Vischer, Auch Einer. II. 26

die Maſſe, um das Volk, das ſich auf Symbolik ein- für
allemal nicht verſteht. Und da ſtehen wir vor einer
noch ganz andern, ſtehen wir erſt vor der eigentlichen,
verzweifelten Amphibolie — :

Ein Satz: Die Maſſe braucht in alle Ewigkeit ein ge¬
glaubtes
Bilderbuch. Wie viel immer das Pigment
ſchaden mag, es iſt doch auch Stütze. — Religion fort:
auch Moral fort. Gefärbte Religion doch beſſer als keine.

Anderer Satz: Ein ſehr großer Theil des Volks
iſt allerdings aus der Bilderwelt herausgewachſen, das
nimmt nun aber zu in geflügelter Progreſſion; noch
iſt es nicht die Mehrheit, aber bald wird ſie in die
Strömung gezogen ſein. Wer nur irgend ſich etwas
umſieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer
von Phyſik und Geſchichte auch nur einigen Lichtſtrahl
empfängt, iſt rein fertig mit Allem, was überſinnliche
Figur, was Regierung des Univerſums von außen,
was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment.
Nun ſind aber alle dieſe hülflos in's Leere geworfen.
Die gefärbte Religion ſind ſie los, zur reinen reicht
es bei ihnen nicht, und wenn es reichte, wer reicht
ſie ihnen? Niemand. Unſere Prieſter bieten nimmer¬
mehr Religion ohne Pigment, und man muß auf
Grund des erſten Satzes zugeben: es wäre nicht mög¬
lich. Eigentlich iſt die reine Religion allerdings nicht
farblos. Zur Farbe hat ſie nichts Geringeres als die
Weltgeſchichte, die mythenlos wahre. Das aber iſt

Viſcher, Auch Einer. II. 26
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0414" n="401"/>
die Ma&#x017F;&#x017F;e, um das Volk, das &#x017F;ich auf Symbolik ein- für<lb/>
allemal nicht ver&#x017F;teht. Und da &#x017F;tehen wir vor einer<lb/>
noch ganz andern, &#x017F;tehen wir er&#x017F;t vor der eigentlichen,<lb/>
verzweifelten Amphibolie &#x2014; :</p><lb/>
        <p>Ein Satz: Die Ma&#x017F;&#x017F;e braucht in alle Ewigkeit ein <hi rendition="#g">ge¬<lb/>
glaubtes</hi> Bilderbuch. Wie viel immer das Pigment<lb/>
&#x017F;chaden mag, es i&#x017F;t doch <hi rendition="#g">auch</hi> Stütze. &#x2014; Religion fort:<lb/>
auch Moral fort. Gefärbte Religion doch be&#x017F;&#x017F;er als keine.</p><lb/>
        <p>Anderer Satz: Ein &#x017F;ehr großer Theil des Volks<lb/>
i&#x017F;t allerdings aus der Bilderwelt herausgewach&#x017F;en, das<lb/>
nimmt nun aber zu in geflügelter Progre&#x017F;&#x017F;ion; noch<lb/>
i&#x017F;t es nicht die Mehrheit, aber bald wird &#x017F;ie in die<lb/>
Strömung gezogen &#x017F;ein. Wer nur irgend &#x017F;ich etwas<lb/>
um&#x017F;ieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer<lb/>
von Phy&#x017F;ik und Ge&#x017F;chichte auch nur einigen Licht&#x017F;trahl<lb/>
empfängt, i&#x017F;t rein fertig mit Allem, was über&#x017F;innliche<lb/>
Figur, was Regierung des Univer&#x017F;ums von außen,<lb/>
was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment.<lb/>
Nun &#x017F;ind aber alle die&#x017F;e hülflos in's Leere geworfen.<lb/>
Die gefärbte Religion &#x017F;ind &#x017F;ie los, zur reinen reicht<lb/>
es bei ihnen nicht, und <hi rendition="#g">wenn</hi> es reichte, wer reicht<lb/>
&#x017F;ie ihnen? Niemand. Un&#x017F;ere Prie&#x017F;ter bieten nimmer¬<lb/>
mehr Religion ohne Pigment, und man muß auf<lb/>
Grund des er&#x017F;ten Satzes zugeben: es wäre nicht mög¬<lb/>
lich. Eigentlich i&#x017F;t die reine Religion allerdings nicht<lb/>
farblos. Zur Farbe hat &#x017F;ie nichts Geringeres als die<lb/>
Weltge&#x017F;chichte, die mythenlos wahre. Das aber i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher</hi>, Auch Einer. <hi rendition="#aq">II</hi>. 26<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[401/0414] die Maſſe, um das Volk, das ſich auf Symbolik ein- für allemal nicht verſteht. Und da ſtehen wir vor einer noch ganz andern, ſtehen wir erſt vor der eigentlichen, verzweifelten Amphibolie — : Ein Satz: Die Maſſe braucht in alle Ewigkeit ein ge¬ glaubtes Bilderbuch. Wie viel immer das Pigment ſchaden mag, es iſt doch auch Stütze. — Religion fort: auch Moral fort. Gefärbte Religion doch beſſer als keine. Anderer Satz: Ein ſehr großer Theil des Volks iſt allerdings aus der Bilderwelt herausgewachſen, das nimmt nun aber zu in geflügelter Progreſſion; noch iſt es nicht die Mehrheit, aber bald wird ſie in die Strömung gezogen ſein. Wer nur irgend ſich etwas umſieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer von Phyſik und Geſchichte auch nur einigen Lichtſtrahl empfängt, iſt rein fertig mit Allem, was überſinnliche Figur, was Regierung des Univerſums von außen, was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment. Nun ſind aber alle dieſe hülflos in's Leere geworfen. Die gefärbte Religion ſind ſie los, zur reinen reicht es bei ihnen nicht, und wenn es reichte, wer reicht ſie ihnen? Niemand. Unſere Prieſter bieten nimmer¬ mehr Religion ohne Pigment, und man muß auf Grund des erſten Satzes zugeben: es wäre nicht mög¬ lich. Eigentlich iſt die reine Religion allerdings nicht farblos. Zur Farbe hat ſie nichts Geringeres als die Weltgeſchichte, die mythenlos wahre. Das aber iſt Viſcher, Auch Einer. II. 26

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/414
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/414>, abgerufen am 08.05.2024.